EINE NACHTWANDERUNG
„Dunkel war’s, der Mond schien helle“: Christian Morgenstern soll für diese erste Zeile eines zumindest im deutschsprachigen Raum sehr bekannten Gedichtes verantwortlich sein. Man schreibt das Spottgedicht aber auch Joachim Ringelnatz zu, der eigentlich Hans Gustav Bötticher hieß und für seine Unsinnverse und mitunter kühne Kinderliteratur berühmt war. Goethe soll’s geschrieben haben und Lewis Carrol. So gegensätzlich wie das deutsche Reimgut selbst und so ungreifbar wie dessen Autor scheint, so voller Gegensätze und Faszination ist die Nacht selbst. Seit Menschengedenken versuchen Künstler und Schriftsteller, die Nacht zu beschreiben und sie in ihnen naher Kunstform festzuhalten. Das taten und tun sie in Texten und Bildern und seit der Erfindung der Kamera: in Fotografien.
Es gibt Bildbände, die Amateuren den richtigen Umgang mit der Kamera des Nachts erklären wollen. Stativ, Langzeitbelichtung, Motivwahl. Es gibt aber nur wenige Bildbände, die sich mit dem Phänomen des Nacht-Seins auseinandersetzen. Die meisten sind Abdrucke von Arbeiten lokaler Hobby- und Berufsfotografen, die unbedingt auch mal einen Bildband machen wollen. „Wien im Licht der Nacht“ von Klaus Bock zum Beispiel. „Rhönglühen“ von Jürgen Hüfner zeigt das deutsche Mittelgebirge nach 18 Uhr. Es gibt solche Bildbände, die den Menschen zeigen, wie er sich der Nacht hingibt – in all ihrer Anonymität, in ihrer Möglichkeit, ein anderer zu sein –, das Tageskleid abstreift und das Gewand des Nachtschwärmers anlegt. In diesem Zusammenhang muss der französische Fotograf Brassaï und seine Dokumentation des Pariser Nachtlebens erwähnt werden. Gyula Halász, wie er mit bürgerlichem Namen hieß, verfolgte Ganoven, Prostituierte, Paradiesvögel und deren Liebhaber in die dunkelsten Gassen des Paris’ der 1930er-Jahre. Keine leichte Aufgabe, bedenkt man, dass ein Fotoapparat vor achtzig Jahren noch unheimlich schwer wog. 2013 gab der Schirmer/Mosel Verlag ein 312 Seiten starkes Sammelwerk seiner Fotografien unter dem Titel „ BRASSAÏ – Flaneur durch das nächtliche Paris“ heraus. Solche Abbildungen der Nacht und ihrer Bewohner findet man heute nur noch selten und meist in einer Quantität, die für eine gemütliche Stunde des Blätterns viel zu mickrig ist.
TASCHEN veröffentlichte mit „Fullmoon“ einen Wälzer, der in Aufmachung und Gewicht (!) seinesgleichen sucht. Darren Almond ist der verantwortliche Fotograf und begab sich auf seiner Suche nach den schönsten Mondlandschaften auf Erden in entfernteste Winkel und unwirtlichste Gegenden. Fündig wurde er unter anderem in Japan, auf der deutschen Insel Rügen, in Amerika, in felsigen Schluchtenlandschaften, im Yosemite-Nationalpark und auf der kargen Flur der Arktis. Almond zeigt romantische Szenen, aber auch solche, die imstande sind, den Betrachter das Fürchten zu lehren. Keine Menschen, kein französischer Mode de Vie, keine Ganoven, keine Prostituierten. Die braucht es auch nicht. Fast möchte man nicht glauben, dass Almond diese Aufnahmen bei Nacht und Mondlicht gemacht haben will. Aber dann taucht plötzlich der Nebel auf, wie er in der Wiese wabert, der Mond am Himmel verrät, der Tag hat sich zur Ruhe gelegt und die Sterne scheinen aus ihrem Zelt zu fallen*.
(* Schuld an der Flut von Sternschnuppen ist übrigens die lange Belichtungszeit, die nötig ist, um Bilder wie diese zu machen. Schlaflose und Fotografieinteressierte finden in „Nacht- und Restlichtfotografie: Stimmungsvolle Fotos von der Dämmerung bis zum Morgengrauen“ von Meike Fischer einen aufgeräumten und verlässlichen Guide durch die Nacht.) /// www.taschen.com
Text: Felix Just
Schlagworte: Bildband, Design, Feature, TASCHEN