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DIALEKT DER IDEALISIERUNG
Design
2. Januar 2008

DIALEKT DER IDEALISIERUNG

30 Jahre Pierre & Gilles: Erst kürzlich zeigte das Pariser Museum Jeu de Paume die bislang umfangreichste Sammlung des bisherigen Schaffens der französischen Künstler. Als Katalog ist im Taschen Verlag ein großformatiger Bildband mit einem kompletten Überblick des Werks sowie begleitenden Privatfotos der Künstler erschienen.

Seit dreißig Jahren steht das Werk von Pierre & Gilles für das inszenierte Porträt mit einer gewollten Überfrachtung. Die idealisierende Glätte
rückt die bemalten Fotografien für manche Betrachter in die
Nähe des Kitsches. Aber welche Idealisierung verfolgen die Arbeiten? Die des jungen Körpers? Der Schönheit? Der männlichen Genitalien? Der Homosexualität? Wie kaum ein anderes zeitgenössisches
Werk zeichnen sich die rund 700 Bilder
durch das zentrale Thema der Verklärung
aus. Dazu werden Motive der Mythologie (Hermes, Herkules, Ganymed, u.
a.) oder der Religionsgeschichte interpretiert.

Entstehungsgeschichtlich
älter sind die rund dreißig, auf Kirchenheilige ausgerichteten Werke,
dessen bekannteste Abbildung ein
mit Pfeilen durchbohrter und nur mit
schmalem Leinentuch bekleideter
Jüngling ist. Überraschenderweise
leidet dieser keine Qualen, sondern
blickt erwartungsvoll in den Himmel,
wobei seine Lippen leicht, wie zum Kuss, geöffnet sind. Das Entstehungsjahr 1987 fällt zusammen mit der beginnenden Aidskrise, die die Emanzipation
der Schwulen zuerst erschwerte, weil sie
scheinbar der Keim einer Seuche sind. Im späteren Verlauf wurden sie jedoch eine Art Märtyrer der sexuellen Revolution, da sie als Wegbereiter der freien Liebe zu Tausenden die ersten Opfer einer sexuell übertragbaren Krankheit werden. Der schöne, muskulöse Saint Sebastian in paradiesischer Natur wird von Pierre & Gilles nicht trivial idealisiert, sondern zeitgleich als Opfer einer zweifachen Verfolgung durch Gesellschaft und Natur, symbolisiert durch zwei Pfeile, problematisiert. Diese Dialektik zeigt sich auch in einer weiteren Abbildung des Saint Sebastian aus dem Jahr 1996: Fast zehn Jahre später ist der ebenfalls entrückt wirkende junge Mann nur noch von einem Pfeil verletzt, da sich die gesellschaftliche Repression als nicht mehr bedrohlich erweist. Dass der dargestellte Märtyrer asiatischer Abstammung ist, bietet ebenfalls ein Indiz für mehr Diversität. In dieser Phase des Werkes treten statt leidender Heiliger heroische Figuren der Antike in den Vordergrund. Auch sie sind nicht uneingeschränkt idealisiert, sondern erweisen sich mit Ganymed oder Herkules als tragisch gebrochen. Die Zurückhaltung, die die Darstellung der Heiligen prägte, wird abgelegt und Penis sowie Schwert tauchen wie bei Spartakus gemeinsam auf. Doch selbst diese heroische Darstellung des Homosexuellen in den Arbeiten nach dem Jahr 2000 ist stets dialektisch angelegt. Herkules beispielsweise zeigt sich im Kampf gegen die vielköpfige Hydra. Diese jedoch ist ein Plastikspielzeug und damit ein Hinweis dafür, dass die Auseinandersetzung mit Homophobie zu einem unbedeutenden Aspekt unserer Gesellschaftsproblematik wurde.
Wichtig wird den Künstlern stattdessen, sich aktualitätsbezogen zu äußern, wie beispielsweise mit IRAQ WAR, das einen jungen Araber mit Maschinengewehr zeigt. Ornament und Nacktheit sind hier deutlich zurückgenommen, sodass man auf die Weiterentwicklung des Werkes gespannt sein darf.

INTERVIEW MIT ARION-DARSTELLER MICKY FRIEDMANN

Der professionelle Tänzer, Choreograf und DJ Micky Friedmann hat seinen Körper als Model bereits für zahlreiche Shootings, darunter auch Magazincover und Werbekampagnen, ablichten lassen. Doch vor wenigen Monaten wurde ihm eine besondere Ehre zuteil: Das Künstlerpärchen Pierre et Gilles wählte den gebürtigen Israeli für ihre Interpretation des Arion aus der griechischen Mythologie aus. Wir sprachen mit dem Auserwählten über seine außergewöhnliche Erfahrung und über seine Karriere jenseits des Modelns.

 

WIE KAM DER KONTAKT ZU PIERRE & GILLES ZU STANDE?

Sie hatten Bilder von mir gesehen, mich kontaktiert und gesagt, dass sie mich exotisch finden und sich melden würden, wenn sie ein passendes Projekt haben. Ende 2006 stand fest, dass sie eine Retrospektive planen und unter anderem die Figur des Arion, das ist der Musiker aus der griechischen Mythologie, bearbeiten wollen.

 

WIE LANGE HABT IHR GEARBEITET?

Zwei Tage. Die beiden leben etwas außerhalb von Paris. Ich dachte, ich käme in eine teure Villengegend, dabei ist es ein etwas runtergekommener Vorort, wo sie mit ihren Hunden Lilly und Totto leben. Sie sind erfrischend bodenständig und sehr nett, ganz ohne Diven-Allüren. Wir haben zuerst gegessen und französischen Wein getrunken, und sie haben mich nach meinem Leben befragt. Das Atelier liegt unter der Wohnung. Am ersten Tag haben wir nur das Licht getestet und die Farben der Dekoration. Das Foto entsteht in fünf Rahmen, was ihm die Tiefe gibt, wie bei einem Bühnenbild.

 

TRÄGT JEDER RAHMEN BESTANDTEILE DES BILDES?

Ja, ich stand hinter dem dritten Rahmen. Sie sind alle mit Stoff benäht oder beklebt. Vorne waren die Delfine und hinter mir die Sonne. Wahrscheinlich haben sie tagelang das Set vorbereitet. Nach acht Stunden Lichttest bin ich ins Hotel gefahren, und am nächsten Tag haben wir uns gegen Mittag getroffen und fotografiert. Dazu gibt es eine witzige Geschichte, die erst ein paar Tage alt ist: Ich bekam eine Nachricht von Pierre, ob ich einverstanden sei, wenn sie mich unbeschnitten darstellen, weil die Beschneidung nicht in das griechische Altertum passt …

 

WIE IST DIE ARBEITSTEILUNG DER BEIDEN KÜNSTLER?

Pierre hat, glaube ich, das Gesamtbild im Kopf. Und Gilles sieht manchmal, was Pierre beim Fotografieren entgeht, und korrigiert die Details. Mit dem Foto fängt Gilles an zu malen. Es wird auf ein Stück Stoff gedruckt und Gilles malt auf diese Unterlage die Feinheiten. Am meisten ist mir in Erinnerung geblieben, wie lieb die beiden sind und dass sie dich wie einen Freund behandeln. Am liebsten würde man dableiben, in diesem Wunderland. /// Micky Friedmann auf Soundcloud

 

Text & Interview: Olaf Alp