TOKIO HOTEL
Angehimmelt, abgelehnt, bejubelt und belächelt, aber nie übersehen: Tokio Hotel hat es nach der Veröffentlichung ihrer Debütsingle „Durch den Monsun“ innerhalb weniger Jahre zu einem der erfolgreichsten deutschen Musikexporte des letzten Jahrzehnts geschafft. Gerade in Frankreich fand die Band eine dankbare Käuferschaft und Singles wie Alben einen festen Platz in den französischen Charts. Mittlerweile hat sich auch der deutsche Hörer mit dem expressiven Stil von Frontmann Bill Kaulitz arrangiert – ja man ist sogar richtig stolz auf die vier Jungs aus der Heimat, weil sie im Ausland geschafft haben, woran sich so manch anderer deutscher Künstler die Zähne ausgebissen hat. Wir wollten von Bill und Zwillingsbruder Tom wissen, wo sie denn in den letzten vier Jahren gesteckt haben, ob wir Bill auch mal in Jeans und T-Shirt zu sehen bekommen und vor allen Dingen: wie denn das neue Album klingt.
EUER MITTLERWEILE VIERTES STUDIOALBUM STEHT IN DEN STARTLÖCHERN. FÜNF JAHRE IST ES HER SEIT ALBUM NUMMER DREI. EIN JAHR NACH DER VERÖFFENTLICHUNG VON „HUMANOID“ HABT IHR EUCH ENTSCHLOSSEN, EINE PAUSE VOM LEBEN IN ÖFFENTLICHKEIT EINZULEGEN UND SEID NACH LOS ANGELES UMGESIEDELT.
Bill: Es sind erschreckenderweise schon vier Jahre, ja.
WARUM HAT ES EUCH GERADE NACH AMERIKA GEZOGEN?
Bill: Das war eine spontane Entscheidung. Wir wussten, wir mussten weg aus Deutschland und kannten ein paar Leute in L. A. Das hätte also auch jede andere Stadt sein können. Wir hatten schon vorher nach einem Zweitwohnsitz gesucht und hatten gar nicht vor, komplett abzuhauen.
Tom: Nachdem es in Deutschland zu verrückt geworden ist, sind wir quasi über Nacht umgezogen. Wir haben noch nicht einmal das Haus gesehen, in das wir dann gezogen sind, sondern haben es uns online ausgesucht. Dann sind wir mit Sack und Pack losgeflogen. Ohne Rückflugticket.
WIE SCHWIERIG WAR ES DANN FÜR EUCH, EINFACH MAL NICHTS ZU TUN?
Beide: Gar nicht! (lachen)
Bill: Es wäre albern zu sagen, wir hätten die ganze Zeit am Album gearbeitet. Wir haben wirklich erst mal gar nichts gemacht. Wir haben nur gechillt und Sachen getan, für die wir bisher keine Zeit hatten.
AB 2013 WART IHR IM DEUTSCHEN FERNSEHEN IN DER JURY DER CASTINGSHOW „DEUTSCHLAND SUCHT DEN SUPERSTAR“ ZU SEHEN. WEIL IHR DIE BÜHNE DANN DOCH EIN BISSCHEN VERMISST HABT?
Bill: Wir hatten einfach die Zeit dazu. Als wir mit Tokio Hotel noch so viel unterwegs waren, kam das gar nicht infrage, so einen Juryjob zu machen. Es kamen immer wieder Angebote, und irgendwann war das Angebot so gut, dass man auch nicht mehr Nein sagen konnte.
Tom: (lacht)
WIE HABT IHR IN DEN VERGANGENEN VIER JAHREN DEN KONTAKT ZU DEN FANS AUFRECHTERHALTEN? AUF EUREM YOUTUBE-CHANNEL HABT IHR DIVERSE VIDEOS MIT BACKSTAGE-MATERIAL UND AUFNAHMEN AUS DEM STUDIO VERÖFFENTLICHT – WAR DAS EUER WEG ZU SAGEN: „HALLO, WIR SIND WIEDER DA“?
Bill: Ja. Wir haben im Prinzip Tokio Hotel TV wieder angefangen. Das haben wir früher schon gemacht. Mit dem neuen Album haben wir damit wieder angefangen, um den Leuten einen Einblick in unser Leben und die Studioarbeit zu geben.
TOM, IM OFFIZIELLEN TRAILER ZUM NEUEN ALBUM SIEHT MAN DICH UNTER ANDEREM AM MIXER. WANN HAST DU DIE GITARRE GEGEN DAS MISCHPULT EINGETAUSCHT?
Tom: Das hat sich notgedrungen so ergeben. Als wir begonnen haben, die ersten Songs rauszupicken, wieder Musik zu machen und uns mit Produzenten zu treffen, ging das in eine Richtung, die wir überhaupt nicht gesehen haben. Writing Sessions mit anderen Textern liefen zum Beispiel nicht so, wie wir uns das vorgestellt haben. Und darum habe ich zu Bill gesagt, wir müssen alles allein machen. Dann haben wir ein Homestudio gebaut und einfach losgelegt. Gar nicht mit dem Ziel das ganze Album zu produzieren, aber es hat sich so entwickelt, dass Bill und ich jetzt Executive Producer des Albums sind und ich einen Großteil der Songs produziert habe. Das ist ein tolles Gefühl. Das ging natürlich nur, weil wir so viel Zeit hatten.
BLEIBEN WIR NOCH KURZ BEIM TRAILER: BILL, DU ERZÄHLST SELBST, DASS DU MITUNTER ÜBER STUNDEN PRODUZIERTE SONGS DOCH WIEDER ABLEHNST. WER HAT DENN IN DER BAND DAS LETZTE WORT? ODER IST DIE SONGAUSWAHL EINE GRUPPENENTSCHEIDUNG?
Bill: Wir täuschen eine Gruppenentscheidung vor. In Wirklichkeit bin ich derjenige, der im Hintergrund die Fäden zieht. (grinst) Klar, wir entscheiden das schon zusammen und man guckt, dass alle damit leben können. Wir wissen, was für den anderen wichtig ist. Tom weiß, wenn ich in einer bestimmten Art Nein sage, braucht er nicht zu versuchen, es durchzudrücken, und lässt es dann. Umgekehrt ist es ähnlich.
WER ZEICHNET FÜR DIE TEXTE VERANTWORTLICH?
Bill: Wir haben das (Album) alle zusammen geschrieben.
Tom: Der Großteil kommt schon von dir.
Bill: Klar, ich bin hauptverantwortlich für die Texte. Ein paar Sachen haben wir komplett selbst geschrieben, ein paar Sachen haben wir mit anderen Songschreibern und Produzenten geschrieben.
Tom: Also, wenn ein Text wirklich brillant und richtig auf den Punkt ist, dann kam der von mir. Alles andere ist von Bill. (grinst)
Bill: (lacht)
INSGESAMT SPIELT IHR MEHR MIT ELEKTRONISCHEN EFFEKTEN UND VOCODER – GEHT DA DIE REISE FÜR TOKIO HOTEL MUSIKALISCH HIN?
Tom: Gerade was die Vocal-Effekte angeht, würde ich nicht sagen, dass das die musikalische Reise ist, auf die es jetzt geht. Das kommt immer auf die Songs an. Wir haben uns nicht vorgenommen, unbedingt Vocoder oder Autotune zu benutzen. Es gibt Stimmen, mit denen kannst du richtig viel machen und es klingt abgedroschen. Und dann gibt’s Stimmen, die auch mit einem übertriebenen Autotune-Effekt sehr, sehr gut klingen, und das ist bei Bills Stimme so. Ich hab’ die Effekte auch erst mal weggelassen. Ich dachte, nee, vielleicht machen wir es pur. Das war dann natürlich immer sehr schief, weil Bill einfach scheiße singt. (grinst, Bill lacht)
Bill: Wir haben uns vorher keine Richtung (für das Album) überlegt. Wir haben die Auszeit auch genommen, weil wir gar nicht mehr wussten, was wir musikalisch eigentlich machen wollen. In so einer langen Zeit passiert natürlich total viel. Man selber verändert sich und entwickelt einen anderen Geschmack. Das Album ist auch inspiriert vom Nachtleben. Wir waren viel aus, wir sind viel feiern gegangen. Wir wollten Musik machen, die wir auch privat hören, die wir geil finden und auf die wir Bock haben.
WAS WAR DAS LETZTE ALBUM, DAS IHR EUCH GEKAUFT HABT?
Tom: Ich kauf eher einzelne Songs. Ich hab’ mir gerade von diesem – wie heißt der eigentlich? José?
Bill springt ein: Hozier oder so. Ich weiß gar nicht, wie man den ausspricht.
Tom: Wie heißt der Song?
Bill: „Take Me To Church“.
Tom: „Take Me To Church“. Den habe ich mir gekauft. Wir haben eine eigene Playlist bei Spotify erstellt, mit der wir verraten haben, wann das Album rauskommt. Die (Playlist) trifft so ziemlich genau unseren Musikgeschmack.
Bill: Ich mag Robyn total gerne. Alles, was die macht, kauf ich mir. Ellie Goulding finde ich auch super.
GANZ WICHTIG WAR FÜR TOKIO HOTEL AUCH IMMER DAS STYLING. WAS DÜRFEN WIR DA ERWARTEN?
Bill: Da kann man viel erwarten. (beide lachen) Neben dem Musikmachen ist uns der visuelle Aspekt auch immer ganz, ganz wichtig. Wir haben ein tolles Shooting gemacht und uns da wieder voll ausgelebt. Bei mir ändert sich das (Styling) ja auch ständig.
Tom: Also, Bill hat sich ausgelebt. Der Rest der Band hat sich entspannt. (lacht)
BILL, DU STEHST MITUNTER IN KOSTÜMEN AUF DER BÜHNE, DIE NICHT UNBEDINGT BEQUEM AUSSEHEN. WÜNSCHST DU DIR NICHT AUCH MAL EINFACH IN T-SHIRT UND JEANS AUFZUTRETEN?
Bill: Wenn ich mit meinem Hund rausgehe, gehe ich auch in Jogginghose auf die Straße. Auf der Bühne würde das für mich nie infrage kommen. Wenn wir zum Beispiel auf Tour sind und ich kein Outfit habe, fühle ich mich total unwohl. In Basecap, Jeans und T-Shirt wäre ich auf der Bühne wahrscheinlich total unsicher.
MAN HAT IMMER DAS GEFÜHL GEHABT, DASS IHR SEHR ENTSPANNT MIT DEN MEDIEN UMGEGANGEN SEID UND GERADE DU, TOM, SPASS DARAN HAST, DEN EINEN ODER ANDEREN JOURNALISTEN AUCH MAL ZU FOPPEN. WIE IST EURE BEZIEHUNG ZU DEN MEDIEN HEUTE?
Tom: Ja, wir versuchen, entspannt mit den Medien umzugehen. Ich muss aber zugeben, dass das nicht immer der Fall war. Ich hatte meine erste Bildschlagzeile schon, bevor unser erster Song rausgekommen ist. Am nächsten Tag musste ich zur Schule gehen und mich meinen Mitschülern stellen. Als junger Mensch ist man damit teilweise überfordert. Irgendwann eignet man es sich einfach an, mit der Situation besser umzugehen, weil es dazugehört. Das war ein Prozess und nicht von Anfang an so. Mittlerweile versucht man, einen Mittelweg zu finden. Als der Erfolg gerade losging, hat man gemacht, was gerade reinkam. Jetzt sucht man sich die Sachen schon genauer aus.
GLAUBT IHR, DASS ES FÜR EUCH EINFACHER WAR, DEN MEDIENRUMMEL ZU ÜBERSTEHEN, WEIL IHR SO JUNG WART, ODER SCHWIERIGER?
Beide: Einfacher.
Bill: Ich glaube, wenn man so jung ist, denkt man nicht viel darüber nach. Wenn man älter wird – und das kennen sicher alle – macht man sich um die eine oder andere Sache mehr Gedanken. Man ist aufgeregter und einiges fällt einem schwerer. Als junger Mensch hat man vieles viel einfacher weggesteckt. Das ist wie mit dem Alkohol oder Drogen. Als Junge hast du die Nacht durchgemacht und stehst am nächsten Tag eben auf. Heute überlegt man sich schon genau, wann muss ich morgen raus?
SEID IHR JETZT ERWACHSEN?
Tom: Wir hatten diese Konversation erst. Wir saßen draußen und die Sonne ging gerade auf, weil wir so einen verdrehten Rhythmus haben. Da habe ich noch gesagt: „Wir sind jetzt 25 und ich fühle mich immer noch wie ein kleiner Junge.“
Bill: Ich fühle mich auch nicht erwachsen. Man ist insoweit erwachsener, als dass man sich mehr Gedanken macht und mehr auf sich Acht gibt. Ab 25, sagt man ja, geht’s dann bergab. (lacht)
Tom: Das ist so, weil man jetzt in den Spiegel guckt und man die Spuren der Nacht zuvor sehen kann. (grinst)
Bill: Innerlich fühlt man sich immer jünger.
Tom: Als ich 15 war, habe ich mich total erwachsen gefühlt.
Bill: Genau! Als 15-Jähriger bin ich in die Klubs gegangen und dachte, es ist eine Frechheit, mich nach dem Ausweis zu fragen. Und heute ist es so, dass ich mich total jung fühle und manchmal schockiert bin, wenn Leute mich für viel älter halten. Ich glaube, man lernt immer noch Sachen dazu. Wahrscheinlich blicken wir beim nächsten Album zurück auf dieses Album und die Interviews, die wir jetzt gegeben haben, und denken: „Guck mal wie jung und unerfahren wir da noch waren!“ Ich glaube, man wird nie so richtig erwachsen.
Tom: Gerade, wenn man machen kann, was man will. Seitdem wir 15 sind, stehen wir auf und machen im Prinzip, worauf wir Bock haben. (grinst) ///
Tokio Hotel /// Kings of Suburbia, ab 3. Oktober im Handel
Interview: Felix Just / Fotos: Lado Alexi
Schlagworte: Culture, Interview, Music, Tokio Hotel