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MONOGAMIE,
NEIN DANKE
Warum wir Mehrfachbeziehungen brauchen.
21. Dezember 2020

MONOGAMIE, NEIN DANKE

Seien wir mal ehrlich: Der Mensch ist für ein monogames Leben nicht geschaffen. Oder gibt es etwa im Gehirn eine Vorrichtung, die uns für sexuelle Reize von außen sperrt und nur auf einen einzigen Partner fixiert? Nein, natürlich nicht. Stattdessen sollten wir überlegen, welche Alternative es zur Monogamie gibt und wie man sie am besten lebt. Eine Möglichkeit sind Mehrfachbeziehungen.

VERMEINTLICHE TREUE

„Die Ketten der Ehe sind schwer, und es sind zwei nötig, sie zu tragen – manchmal auch drei“, sagte schon Oscar Wilde. Was der Literatur- und Menschenkenner in seinen Werken voraussah, hat die moderne Wissenschaft im Laufe des 20. Jahrhunderts in zahlreichen Versuchen bewiesen: Der Mensch ist nicht für die Treue geschaffen. Die Evolutionsbiologie hat diese Auffassung mit dem sogenannten Coolidge-Effekt belegt. Er besagt, dass die Lust auf Sex mit dem gleichen Partner ständig geringer wird. Dies gilt allerdings nur für männliche Tiere. Präsentiert man ihnen ein neues Sexualobjekt, tritt bei der gerade noch vorhandenen Lustlosigkeit plötzlich ein neuer Libidoschub auf. Die meisten von uns machen in einer Partnerschaft ebenfalls Bekanntschaft mit diesem Effekt, der sich umso schneller einzustellen scheint, je öfter man sich sieht. Lebt man gar zusammen, führen die alltäglichen Effekte von Übellaunigkeit über Mundgeruch beim Aufstehen bis hin zum Anblick des Partners bei der Morgentoilette schnell zur erotischen Abstumpfung. Diese steht in krassem Gegensatz zur Phase des Kennenlernens, die in der Regel von dem Bemühen gekennzeichnet ist, sich in einem besonders guten Licht darzustellen und dem anderen möglichst zu gefallen. Der Glückszustand einer bestehenden Beziehung wird in den ersten drei bis vier Jahren von dem Hormon Phenylethylamin (PEA) geprägt, das Hochstimmung, Heiterkeit und Euphorie erzeugt. Dieser Zustand hält zwischen 18 Monaten und drei Jahren an. Danach beginnt der Körper entweder, sich an das PEA-Level zu gewöhnen, oder es lässt stetig nach und ein neues Gefühl stellt sich ein; das der Zuneigung. Endorphine vermitteln ein Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit beim Partner. Entweder das Paar ist mit diesem Zustand zufrieden und strebt eine längere Beziehung an oder das häufig beschriebene verflixte siebte Jahr erweist sich in Wahrheit als viertes Jahr und es kommt zur Trennung. Eine Analyse von Scheidungszahlen in allen verfügbaren Statistiken der Erde hat ergeben, dass in jedem Kulturkreis die Zahl der Trennungen rund um das vierte Jahr am höchsten ist. Die Psychologin Helen Fisher schließt daraus, dass ähnlich wie im Tierreich die Paarbindungen des Menschen nur so lange bestanden, „bis ein Einzelkind die Kleinkindphase beendet hatte, nämlich vier Jahre“. Danach suchten sich die Eltern einen neuen Partner und lebten somit eine Form der seriellen Monogamie. In diesem Fall sprechen wir heutzutage gerne von wechselnden Lebensabschnittspartnern.

ABWECHSLUNG DURCH SEITENSPRUNG

Ein Seitensprung bietet die einmalige Möglichkeit, die Sicherheit und Geborgenheit beim Partner zu bewahren und gleichzeitig den erotischen Kitzel und damit die Lebenszufriedenheit zu erhalten. In diesem Zusammenhang ist es interessant, dass andere Kulturen mit dem bei uns stigmatisierten Thema „Betrug“ ganz anders umgehen. Afrikanische Völker wie die Kofyar in Nigeria gestehen ihren Eheleuten die Möglichkeit zu, sich einen Liebhaber zu nehmen und ganz öffentlich mit ihm oder ihr in der Hütte zusammenzuleben. Die eskimoischen Inuit-Frauen bieten sich auch Fremden an, weil für sie außereheliche Kontakte ein Bestandteil dauernder Versippung sind. Sowohl bei den frühzeitlichen Juden als auch bei den Griechen bezog sich Ehebruch ausschließlich auf den Kontakt mit einer anderen verheirateten Frau. Geschlechtsverkehr mit Prostituierten oder Dienerinnen war gestattet. Scheinbar ist die Unbefangenheit früherer Überlebensstrategien heute mehr in gleichgeschlechtlichen Beziehungen präsent. Nach einer Studie der deutschen Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung geht jeder zweite aus diesen Verbindungen fremd. Laut der kanadischen Universität Windsor sogar Dreiviertel der Befragten. Je länger eine Beziehung dauert, desto häufiger wird der Seitensprung. Während in Beziehungen unter sechs Monaten noch achtzig Prozent Treue zeigen, sind es nach vier Jahren nur noch 28 Prozent.

 

ES IST GENUG LIEBE FÜR ALLE DA

Polygamie ist ein anrüchiger Begriff. Polygamie klingt nach Vielweiberei und soll Anhänger dieser Lebensform, wie beispielsweise die Mormonen, diskreditieren. Dabei kennt schon das Alte Testament den Brauch, dass der Bruder eines verstorbenen Mannes verpflichtet war, dessen Frau zusätzlich zu ehelichen, um auch den Fortbestand dieses Familienzweiges zu sichern. Trotzdem sind es gerade die großen monotheistischen Religionen, die heute die stärksten Feinde einer Vielehe sind. Noch der Prophet Mohammed sprach davon, dass ein Mann bis zu vier Frauen nehmen könne. Diese Form der Mehrfachehe wird mit dem Begriff Polygamie beschrieben und setzt eine gesetzliche Legitimation voraus, die heutzutage in kaum einem Land gegeben ist. Davon unterschieden wird die Polyamorie (griechisch „poly“ = viel, lateinisch „amor“ = Liebe). Sie ist der Oberbegriff für mehrere zeitgleiche Liebesbeziehungen und basiert auf der freiwilligen Übereinkunft der Beteiligten. Die in den 1960er Jahren entstandene polyamore Subkultur geht davon aus, dass alle Partner um die anderen wissen. Da nach ihrem Verständnis Liebe kein limitiertes Gut ist, das nur für einen Menschen reicht, werden Intimität und Zuneigung mit unterschiedlichen Menschen gelebt und brauchen vor ihnen nicht verheimlicht zu werden. Treue bezeichnet in diesem Zusammenhang Ehrlichkeit, Verbindlichkeit und gegenseitige Fürsorge in einem erweiterten Netzwerk von Liebenden. Selbst unter modernen, aufgeschlossenen Individualisten existieren Vorbehalte gegen diese freie Art der Liebe. Das Unbehagen rührt vermutlich daher, dass der Seitensprung als Auftakt zum Partnerwechsel gilt und häufig auch ist. Dabei ist die Vorstellung seinen Partner für einen anderen zu verlassen genauso unsinnig, wie sein Kind auszusetzen, weil man ein zweites bekommt. Das wichtigste Thema der Menschheit wird von der größten Naivität umgeben: Mein Beziehungspartner soll nicht nur ein verständnisvoller Freund sein, er soll mich auch leidenschaftlich lieben, und er soll mich pflegen, wenn ich krank bin. Kein Wunder, dass kein Mensch dieser Erwartung von Liebe gerecht werden kann. Die griechische Philosophie hingegen kannte gar kein übergreifendes Wort für Liebe, sondern unterschied in Eros, die erotische Liebe, Philos, die freundschaftliche Liebe und Agape, die mitfühlende Liebe. Mehrfachbeziehungen sind dazu geeignet, die ganze Bandbreite dieser Liebesformen zu erfahren, wenn auch mit verschiedenen Personen. Dazu können vier Typen von Beziehungspartnern unterschieden werden:

TYP 1: DER LEBENSGEFÄHRTE

Das ist die Person, mit der man die meiste Zeit verbringt und am ehesten verheiratet ist oder ohne Trauschein zusammenlebt. Das Leben wird gemeinsam gestaltet, vielleicht sorgt man auch für Kinder. Im Team werden grundlegende Fragen entschieden und Pläne für die Zukunft geschmiedet. Man kann sich auf den anderen auch in schweren Zeiten verlassen und sorgt gegebenenfalls finanziell füreinander.

 

TYP 2: DE R GELIEBTE

Er lässt andere Seiten unserer Persönlichkeit zum Ausdruck kommen als der Lebensgefährte, denn ein Kennzeichen der wachsenden Liebe ist, dass die Leidenschaft in gleichem Maße zurückgeht – nicht aber der Wunsch nach Leidenschaft. Es kann deshalb passieren, dass man sich trotz glücklicher Lebenspartnerschaft neu verliebt, ohne dass diese infrage gestellt werden soll. Dann steht der Sex im Mittelpunkt und ist neu und aufregend. Oftmals verstärkt die Notwendigkeit zur Heimlichkeit noch die erregenden Aspekte, weil gemeinsame Treffen kreativ arrangiert werden müssen.

 

TYP 3: DER ONE-NIGHT-STAND

Er kann in einem ausgefüllten Beziehungsleben eine wichtige Ergänzung sein. Es ist die Gelegenheit, etwas völlig anderes zu tun, beispielsweise die Sexualrolle oder, bei bisexuell veranlagten, das Geschlecht des Gegenübers zu wechseln. Hier lernt man neue Sexualpraktiken zu erproben, mit denen der Lebensgefährte oder Geliebte beschenkt werden kann.

 

TYP 4: DER BESTE FREUND

Mit ihm teilt man möglicherweise Geheimnisse, die mit dem Lebenspartner nicht besprochen werden können – zum Beispiel das Wissen um einen Geliebten. Eine Freundschaft bietet aber auch die Chance, über andere Probleme zu reden. Man kann Freude teilen, ohne dass destruktive Gefühle wie Eifersucht entstehen. Vielleicht ist der Freund ja ein Ex, sodass auch eine körperliche Nähe besteht. Man kann sich anlehnen, trösten und kuscheln, ohne sexuelles Verlangen zu entfachen.

 

MEHR MUT ZUM WANDEL

Warum soll man also sich selbst und das eigene Leben beschneiden? Warum muss man ständig ein schlechtes Gewissen haben, gegen die gesellschaftlichen Normen und Werte zu verstoßen? Warum Scheinheiligkeit vorleben, wenn es hinter den Fassaden ganz anders aussieht? Natürlich ist das Mehrfachbeziehungsmodell nicht für alle geeignet, denn viele sehnen sich immer noch nach dem Lebenspartner, der alles in sich vereint. Doch so utopisch diese Vorstellung auch ist, so tief ist sie in unserer Gesellschaft verankert und trügt dadurch unsere Wahrnehmung. In den meisten Fragen des Lebens akzeptieren wir den Wandel. Unser Beruf oder Wohnort ändert sich immer häufiger. Bei den Beziehungen hingegen streben wir nach Konstanz, Verlässlichkeit und Stabilität. Gleichzeitig brauchen wir aber auch den Reiz des Neuen und Veränderung. Dies schenkt unserem Leben Fülle und Abwechslung. Es kann sich lohnen den Weg der Veränderung mutig zu beschreiten und auch den Menschen, die man liebt, Freiheit zuzugestehen. Dem Dilemma unseres Gefühlslebens würde dadurch entsprochen: Die Liebe sucht nach Nähe, aber das Verlangen braucht Distanz. Und wer es schafft, sich ein Beziehungsgeflecht aufzubauen, der wird sein Leben ganz sicher bereichern und seine Möglichkeiten voll ausschöpfen. ///

 

Dieses Feature ist Teil der „Better Life“ Edition der Mate, die exklusiv auf Readly erhältlich ist.

 

Text: Olaf Alp

21. Dezember 2020 Body m # zum mate.style.lab