IM LAND DER NERVENSÄGEN
Man möge doch bitte darauf achten, mindestens zwei Stufen Abstand zum Vordermann einzuhalten, empfiehlt die freundliche Bandansage. Der korrekte Abstand sei erreicht, „wenn sich zwischen Ihren Füßen und denen der anderen Besucher mindestens zwei gelbe Linien befinden“, erklärt die weibliche Stimme. Danach folgen einige Erläuterungen zum effektiven Gebrauch des Handlaufs und zu Personenkreisen, die besondere Vorsicht walten lassen müssen. Die Ansage beschallt keinen medizinischen Hochsicherheitstrakt und auch kein Auffanglager für Flüchtlinge aus der Dritten Welt. Sie erklärt den Besuchern eines japanischen Nobelkaufhauses den Gebrauch einer Rolltreppe. Zuerst in Japanisch, dann in Englisch und dann in einer digitalen Endlosschleife wieder von vorn. In der ersten und zweiten Etage, zwischen dem dritten und vierten Geschoss und in allen weiteren Stockwerken. Tagein, tagaus. Jeden Monat. Seit es Rolltreppen in Japan gibt. Überall.
1. REGEL: REGELN BEFOLGEN
Nun gehören Japaner nicht eben zu den vergesslichsten Menschen. Sie benutzen Rolltreppen seit fünf Generationen – und das mit durchschnittlichen Erfolgs- und Unfallzahlen. Trotzdem glauben sie, dass es von hohem Wert und Nutzen sei, sich selbst einfachste Regeln stets in Erinnerung zu rufen. Dabei ist die Regel häufig wichtiger als ihr Sinn. Das beweisen auch Japans öffentliche Schwimmhallen. Seit Jahrzehnten bewältigen moderne Filteranlagen den alltäglichen Haarausfall der Gäste problemlos. An der Badekappenpflicht hat das nichts geändert. Selbst an den Pool von Tokios Top-Ten-Hotellerie bekommt man den lästigen Gummiüberzug vom eilfertigen Personal hinterhergetragen. Ebenfalls gewöhnungsbedürftig: In regelmäßigen Abständen scheucht der Bademeister alle Schwimmer aus dem Wasser. Die Zwangsunterbrechung soll den Kreislauf seiner Schützlinge schonen und muss widerspruchslos eingehalten werden. Selbst dann, wenn man erst wenige Minuten vor der Pause ins Wasser gestiegen ist.
2. REGEL: REGEL NR. 1 GILT IMMER
Selbst in lebensbedrohlichen Situationen legt man im Land der aufgehenden Sonne eine beeindruckende Regeltreue an den Tag. Das belegen japanische Reality-Shows. Hautnah kann der Fernsehzuschauer miterleben, wie das Team des städtischen Krankenhauses in wilder Hast zum Einsatzwagen stürmt, mit Blaulicht durch die Hauptstadt rast und ohne Luft zu holen die Treppen des Mietshauses erstürmt. Vor der Tür des Notfallpatienten fällt plötzlich alle Hast von den eiligen Rettern ab. Sie bleiben stehen, schnüren gewissenhaft ihre Schuhe auf, schlüpfen in die bereitgestellten Hausschuhe und widmen sich erst dann dem Patienten. Wollte sich der Arzt während des Einsatzes die Finger waschen, müsste er vor dem Bad noch einmal das Hausschuhwerk wechseln. Private Badezimmer betreten Japaner grundsätzlich nicht mit denselben Pantoffeln, die sie in der restlichen Wohnung tragen. Eine Regel, die in früheren Zeiten höchste Hygienestandards setzte und seitdem nie hinterfragt wurde. Und das, obwohl japanische Bäder inzwischen zu den saubersten und modernsten der Erde gehören. Hightech-Toiletten mit Funktionen zur Gesundheitsüberwachung brachten den Japanern gar den Ruf ein, sich mit ihren Aborten zu unterhalten. Inzwischen ist Ruhe auf dem stillen Örtchen eingekehrt. Moderne japanische Toiletten reden nicht mit ihren Besitzern, sie machen alles automatisch: öffnen den Deckel, wenn man sich ihnen nähert, und reinigen mit einem präzisen Wasserstrahl dort, wo weniger zivilisierte Nationen Papier verwenden. Sie föhnen trocken und saugen unangenehme Gerüche ab, sie spülen automatisch und schließen die Klobrille wieder.
3. REGEL: BEIM DATEN GILT REGEL NR. 2
In einer anderen Hinsicht sind Japaner ebenfalls erstaunlich effektiv: wenn es darum geht, ein Sex-Date umzusetzen. Jugendliche wachsen mit einem Gesellschaftsspiel auf, das nur einen Zweck hat: Die sogenannte „Gokon“, oder „Verbindungsparty“, soll im Laufe weniger Stunden eine im Voraus berechnete Anzahl von Pärchen bilden. Wie wörtlich das „Verbinden“ gemeint ist, zeigt sich daran, dass diese Spiele immer häufiger als „Yarikon“, oder „Sexparty“, angekündigt werden. Ausländische Besucher sollten sich trotzdem nicht auf ein sexuelles Schlaraffenland freuen. Viele Japaner sind „sticky rice“, wörtlich übersetzt: klebriger Reis. Die Redewendung soll ausdrücken, dass sie sich nur für „Reis“, also andere Japaner, interessieren. Das merkt man deutlich in Tokios Szene. In der japanischen Hauptstadt leben fast 35 Millionen Menschen, ziemlich genau zehnmal so viel wie in Berlin. Entsprechend groß ist die Anzahl der Szene-Bars. Zwei- bis dreihundert sollen es allein in den engen Gassen von Shinjuku Ni-Chome sein. „Foreign friendly“ sind davon nur eine Handvoll. Bei den anderen gilt: Ausländer müssen draußen bleiben. Sie werden direkt an der Tür abgewiesen oder bestenfalls ignoriert und nicht bedient. Manchem Japaner geht es nicht besser. Die winzigen Clubs und Bars fassen zum Teil weniger als zehn Personen und stehen nur einer abgegrenzten Unter-Szene offen. Die Japaner nennen das „Sen“, die Kurzform für „Senmon“, was so viel wie „Spezialität“ bedeutet. /// www.gotokyo.org
Text & Fotos: Carsten Heider
Schlagworte: Japan, Reportage, Tokio, Travel