DIE GESELLSCHAFTSDIÄT
Als sein größter Fan und Bewunderer wollte er dem mehr als doppelt so alten Mann jeden Wunsch erfüllen – und als Herrscher über die gesamte damals bekannte Welt hätte er es wohl auch gekonnt. Aber Diogenes von Sinope wünschte sich von Alexander dem Großen nur, er möge ihm aus der Sonne gehen. Der bekannte Philosoph wollte weder Reichtümer noch sexuelle Gefälligkeiten. Er wollte nur allein sein. Mit seiner Antwort katapultierte sich der passionierte Einzelgänger auf Platz eins der international bekannten Verkünder der Gesellschaftsdiät: Man nehme sein Leben, subtrahiere Freunde, Bekannte und Telenovelas und erhalte das Glück. So einfach ging das damals? So einfach geht es auch heute noch!
Er brauche nur Arbeit, Bedienstete, Ernährungsberater, Bücher und die Erinnerung an seine Mutter, beteuert Modedesigner Karl Lagerfeld einmal. Das ist schon etwas anspruchsvoller als Diogenes’ angebliches Leben in einer sonnenbeschienenen Tonne. Freunde oder gar eine Beziehung kam in der Aufzählung des Exzentrikers aber ebenfalls nicht vor. Was also machen all die Einsamen und Unglücklichen falsch? Sie sind auf Zwangsdiät. Es ist wie so oft nur eine Frage des Standpunkts. Ob man einsam und unglücklich oder allein und zufrieden ist, hängt von der Definition des Betrachters ab. Und von der Freiwilligkeit. Und das Beste: Eine selbstbestimmte Gesellschaftsdiät kennt keinen Jojo-Effekt!
VIERBEINIGE ERSATZ-PARTNER
„Wäre ich nicht Alexander, ich wollte Diogenes sein“, soll der berüchtigte Partyhengst und makedonische König gesagt haben. Wieso? Ganz einfach: Im Alleinsein steckt ein Potenzial, das der Einsame nicht sieht und der Gesellschaftssüchtige nicht erwartet, denn der bittere Nachgeschmack der Einsamkeit strahlt auch auf das Alleinsein ab. Wer gern einsam ist, der braucht wenigstens ein Haustier, um die gesellschaftliche Norm zu wahren. „Was machst du?“ – „Ich gehe spazieren!“ – „Allein?“, wo gibt’s denn so was? Wer in Deutschland seinen Hund ausführt, in England reitet oder in China einen Singvogel durch die Gegend trägt, stößt auf weit weniger Unverständnis. Ist die traditionell enge Bindung des Deutschen an seinen Hund womöglich nur der Ausdruck seines heimlichen Wunsches nach Einsamkeit? Anstelle von Pergament und Federkiel entzieht sich das Volk der Dichter und Denker mit Hund und Leine der Gesellschaft? Da mag es passen, dass der erste Hund, der je von seinem zweibeinigen Freund zu Grabe getragen wurde, ausgerechnet in Deutschland starb; und das bereits vor etwa 14.000 Jahren. Danach war Herrchen wieder allein – und einsam? Wahrscheinlich nicht. Er dürfte sich schnell einen neuen Begleiter mit feuchter Nase und Mundgeruch domestiziert haben. Zu den vielen Vorteilen, die das Leben mit vierbeinigen Freunden seit Anbeginn dieser Partnerschaft hatte, haben sich inzwischen neuartige Probleme gesellt – behaupten zumindest Psychologen. Sie haben neben dem freiwilligen Single, der Abstand liebt und enge Beziehungen meidet, den Single wider Willen ausgemacht. Der hat Angst, nicht so geliebt zu werden, wie er liebt, und legt sich statt Partner einen Hund zu. Nichts schützt so sicher vor Verletzungen wie die „Ehe“ mit einem Haustier. „Na und, sollen sie doch“, mag man dem Seelenklempner vor den Latz werfen. „Wenn sie damit glücklich sind …“ Sie werden damit jedoch nicht glücklich bleiben. Für den unfreiwilligen Beziehungs-Waisen ist das Haustier nur ein Ersatz. Und fatalerweise auch ein Übungsobjekt. Echte Partner reagieren nur ungern auf „Sitz“ oder „Platz“. Sie sind mitnichten immer zur Stelle, wenn sie einen Dosenöffner hören, und lassen sich, von den üblichen Ausnahmen einmal abgesehen, auch nicht an die Leine nehmen. Die Domestizierung der meisten Männer ist weit komplizierter als die einer Katze. Die Chance, den Traumprinzen mithilfe eines Hundes zu finden, ist dagegen gar nicht so schlecht. Als wandelndes Dating-Profil sagt der Mops genauso viel über sein Herrchen aus wie ein Bernhardiner. Kein Wunder, dass sich die beiden auf der Wiese ignorieren. Haben sich die Hunde aber erst für einen Doggy entschieden, kommen auch die Herrchen ins Gespräch.
MEHR POTENZIAL DANK EINSAMKEIT
Nach 14.000 Jahren hat das Erfolgsmodell Hund auf dem Gebiet der Kontaktanbahnung jedoch ausgedient: Dating-Plattformen haben es auf einen der hinteren Rangplätze verwiesen. Und auch auf emotionaler Ebene scheint sich ein neuer Ersatz zu etablieren. Als Miranda in der Fernsehserie „Sex and the City“ von der Freundin ihres Ex- Freundes eine Kerze bekommt, lästert Samantha: „Frauen mit Kerze haben Frauen mit Katze als trauriges Single-Klischee abgelöst“. Wie Recht sie doch hat! Und was macht Männer ohne Haustier oder Kerze glücklich? Man muss sich der Einsamkeit freiwillig aussetzen, sich aus dem sozialen Netz und seinen vermeintlichen Sicherheiten fallen lassen. Sehr schnell bemerkt man dann, dass die Einsamkeit eine Diät mit gewaltigem Energiepotenzial ist – genau wie ein geschrumpfter Rettungsring nach einer Schlankheitskur. Wer es lernt, Einsamkeit bewusst zu erleben, der wird geradezu euphorisch. Auf Partys eröffnet einem die Einsamkeit neue Kontakte. Nicht umsonst ist eine der wichtigsten Regeln erfolgreichen Flirtens das Separieren. Wer ständig im gesellschaftlichen Schutz seiner Freunde steht, der grenzt sich ein – und von den restlichen Klub-Besuchern aus. Wer bereits locker plaudert, der wird nicht angesprochen. Viel erfolgreicher im Angesprochenwerden sind dagegen die vermeintlich schüchternen Häschen. Sie lehnen verlassen an einer Wand. Sie wecken Neugier und Beschützerinstinkte. Sie verbreiten eine Aura von Unabhängigkeit oder heischen nach Aufmerksamkeit und sammeln im Laufe eines Abends mehr Telefonnummern, als sie in ihrer Hosentasche verstauen können. Das klingt so einfach und ist doch so schwer. Allein in eine Disco zu gehen ist für die meisten Menschen eine größere Überwindung, als in ein gares Stück Leber zu beißen. Man fängt deshalb am besten mit kleinen Schritten an, setzt sich auf der Party von seinen Freunden ab, holt ein Bier und macht auf dem Rückweg einen kleinen Zwischenstopp. Beim ersten Mal kann das noch ein leichtes Kribbeln in der Magengegend verursachen. Mit etwas Übung macht der „einsame“ Umweg jedoch schon Spaß. Mit der Erfahrung im Alleinsein unter Menschen steigern sich auch Mut, Gewandtheit und Selbstvertrauen.
ALLEIN UND GLÜCKLICH – MUTTI SEI DANK
Bleibt noch die Frage, wieso es Lagerfeld so leicht fiel, was anderen Menschen so viele Schwierigkeiten bereitet. Er hat sie bereits beantwortet: Es lag an der Erinnerung an seine Mutter. Wahrscheinlich war Mutti immer da, wenn er sie brauchte. Also vor allem in den Momenten, in denen auch der glückliche Einsame an seine Grenzen stieß: in Zeiten der Krankheit. Krankheit macht abhängig. Mit einem spannenden Buch oder einer guten Flasche Wein kann man wunderbar allein sein. Mit einer Salbe gegen Gelenkschmerzen nicht. Wenn Wirbel, Schultern oder der Nacken peinigen, kann man sie ohne fremde Hilfe nicht mal einmassieren. Bei vielen Medikamenten, das glauben selbst Mediziner, beruht die Hälfte der heilenden Wirkung sowieso auf der helfenden Hand, der entspannenden Massage oder einem offenen Ohr. Mütter, die verfügbar sind, wenn man sie braucht, schaffen Urvertrauen. Im Leben des Erwachsenen reichen häufig schon die Rituale der Mutter: Er versenkt einen Zwieback mit Zuckerkruste in lauwarmer Milch, kocht eine heiße Zitrone oder stellt eine Duftkerze ins Zimmer – genau wie Mutter es damals tat – und schon fühlt er sich auch in Krankheitszeiten nicht mehr ganz so einsam. Außerdem pflegen Menschen mit gesundem Urvertrauen – da sind sich Psychologen einig – andere soziale Kontakte als Menschen ohne. Sie bauen unabhängig von einer dauerhaften Partnerschaft ein soziales Netz auf, das sie in Zeiten der Not auffängt. Das Geheimnis dieses Netzes liegt in seiner Gegenseitigkeit, in Freundschaften mit beiderseitiger Zuverlässigkeit. Erst wenn man einem kranken Freund helfen darf, ist man wirklich ein Freund. Menschen ohne Urvertrauen stellen in Zeiten der Not womöglich fest, dass es dieses Netz in ihrem Leben nicht gibt. Ihre Freunde sind nur Freunde, solange die Bettwäsche frisch gewaschen und das Sofa vorgewärmt ist. Das liegt an den Freunden. Das liegt aber auch daran, dass Menschen ohne Urvertrauen ihren Freunden nie glaubhaft vermittelt haben, in Zeiten der Not auch für sie da zu sein. Wenn unsere Mütter wüssten, dass sie durch ihre Gesellschaft unsere Fähigkeit zum Alleinsein gestärkt haben, würden sie sofort an Einsamkeit denken und sich womöglich Vorwürfe manchen. Zu Unrecht. Ihr Fundament für unser Urvertrauen schenkt Sicherheit. Es stärkt die Fähigkeit, Einsamkeit als Chance zu begreifen. Die Unabhängigkeit von anderen Menschen und Konventionen lässt das Individuum seine sozialen Kontakte rechtzeitig hinterfragen.
SPRUNGBRETT IN EINE PARTNERSCHAFT
Am Ende der Jugend stellt das Party-Animal erschrocken fest, dass die Tanzfläche dem Leben keinen Sinn mehr verleiht. Am Ende der Potenz greift der Tiger zum Viagra, um mit einigen Jahren weiterer Verzögerung festzustellen, dass auch ständig wechselnde sexuelle Kontakte immer nur das Gleiche sind. Wer die Einsamkeit scheut, verlängert seine „Jugend“ eigenmächtig bis Mitte Vierzig oder später. Aber leider nicht endlos. Deshalb ist es sinnvoll, erste freiwillige Erfahrungen mit der Sozialdiät zu machen, bevor sie von allein eintritt. Der Druck auf eine Neuorientierung des Lebens wächst mit dem Alter. Dass viele schwule Männer nicht damit umgehen können, zeigt sich in einer weit überdurchschnittlichen Selbstmordrate. Es heißt also: rechtzeitig üben, rechtzeitig hinterfragen und rechtzeitig soziale Kontakte jenseits von Sex und Party etablieren. In „Sex and the City“ beteuert Carrie, es gebe nur zwei Sorten Männer: „Die einen halten Händchen, die anderen fickt man“. Im Freundes- und Bekanntenkreis sollte es von beiden Sorten ein paar geben.
Jetzt macht sich die Investition unserer Mütter in unser Urvertrauen bezahlt. Wer auch allein sein kann, muss sich nicht von einer sozialen Überdosis in die nächste stürzen. Ihm fällt es wesentlich leichter, die Kategorie der Händchenhalter mit guten Freunden zu füllen. Er weist sich ebenfalls als guter Freund aus und sammelt Erfahrungen in lang anhaltenden, menschlichen Beziehungen. Und plötzlich wird die Fähigkeit allein zu sein sogar zu einem ausgezeichneten Sprungbrett in eine dauerhafte Partnerschaft. ///
Dieses Feature ist Teil der „Better Life“ Edition der Mate, die exklusiv auf Readly erhältlich ist.
Text: Carsten Heider
Schlagworte: Body, Health, Mind