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THE ROVING TYPIST
Culture
20. Dezember 2017

THE ROVING TYPIST

„Seit dem Moment, als ich verstand, was ein Autor tut, wollte ich einer sein.“ Christopher Hermelin ist Geschichtenerzähler aus Leidenschaft. In New York wurde er vor wenigen Jahren bekannt, als er sich in Guerillamanier mit einer alten Schreibmaschine bewaffnet Passanten als Kurzgeschichtenautor zur Verfügung stellte. Jeder, der wollte, konnte von ihm binnen weniger Minuten seine eigene personalisierte Kurzgeschichte haben. Mittlerweile nimmt er auf seiner Website Anfragen aus der ganzen Welt entgegen.

BEVOR DU THE ROVING TYPIST ALS WEBSERVICE GESTARTET HAST, HAST DU IN DEN STRASSEN VON NEW YORK QUASI LIVE KURZGESCHICHTEN FÜR PASSANTEN GESCHRIEBEN. WANN HATTEST DU DIE IDEE FÜR DEINEN GESCHICHTEN-SHOP?

In San Francisco habe ich einen Typen getroffen, der Gedichte auf einer Schreibmaschine schrieb und sie auf der Straße verkaufte. Ich wusste sofort, ich wollte ein ähnliches Projekt starten, aber mit Kurzgeschichten statt Gedichten.

 

WIE LANGE BRAUCHST DU FÜR EINE GESCHICHTE?

Es kommt immer darauf an, aber im Durchschnitt brauche ich pro Geschichte sieben bis zwölf Minuten.

 

FÄLLT ES DIR LEICHTER, WENN DIR DIE LEUTE SO VIELE IMPULSE WIE MÖGLICH GEBEN, ODER BEVORZUGST DU FÜR DEN SCHREIBPROZESS EHER WENIGER INPUT?

Ich will, dass die Geschichte in Zusammenarbeit mit demjenigen entstehen, der sie dann mit nach Hause nimmt. Wenn ich Geschichten auf der Straße schreibe, höre ich genau zu, worüber die Leute sich so unterhalten, während ich an ihrer Geschichte arbeite. Grundsätzlich ist beides reizvoll: Wenn ich nur wenig Informationen habe, kann ich meiner Fantasie freien Lauf lassen. Geben sie mir viele Details, dann kommt meine Arbeit eher einem Puzzle gleich, das ich zusammenzusetzen versuche.

 

WARUM SCHREIBST DU AUF EINER ALTEN SCHREIBMASCHINE UND NICHT ETWA AUF EINEM LAPTOP?

Eine Schreibmaschine ist verlässlich und leicht zu transportieren. Außerdem kann ich den Leuten die Geschichten direkt in die Hand drücken und muss sie nicht erst irgendwo ausdrucken. Das Geräusch, das beim Schreiben auf einer Schreibmaschine entsteht, macht die Leute neugierig. Die Schreibmaschine als Objekt ist also auch ein Eisbrecher.

 

HEUTE VERSCHICKST DU DEINE GESCHICHTEN AN LEUTE IN DER GANZEN WELT. INTEGRIERST DU DANN LANDESTYPISCHE DINGE WIE ETWA DAS WETTER?

Das hängt davon ab, was die Leute sich wünschen. Es macht mir Spaß zu recherchieren. Es besteht natürlich immer die Gefahr, dass Details in der Übersetzung verloren gehen, aber das macht es ja gerade so spannend, für Menschen aus anderen Ländern zu schreiben.

 

HAST DU BLAUPAUSEN, DIE DU VERWENDEST UND DIE DU AN DIE VORGABEN DEINER BESTELLER ANPASST?

Nein, habe ich nicht. Obwohl Handlungsstränge wie ein erstes Treffen oder sich verlieben natürlich vielfältig anwendbar sind.

 

HAST DU EINE LIEBLINGSGESCHICHTE?

Ich habe mal eine Geschichte über eine Frau geschrieben, die sich gebrauchte Landkarten kaufte. In den Karten entdeckt sie, dass bestimmte Orte markiert sind. Sie fährt also an diese Orte und findet heraus, dass es sich um Antiquitätenläden handelt. Auf ihrem Trip begegnet sie dem Mann, dem die Karten früher einmal gehört haben, und verliebt sich in ihn. Die Frau, die diese Geschichte gekauft hat, hat mir später erzählt, dass sie ihren Mann auf ganz ähnliche Weise kennengelernt hat.

 

HAST DU SCHREIBBLOCKADEN?

Nicht, wenn ich meine Kurzgeschichten schreibe.

 

WAS INSPIRIERT DICH? GIBT ES EINE ART STIMULANS FÜR DEINE MUSE, DAS IMMER FUNKTIONIERT?

Das Projekt selbst inspiriert mich. Als ich mich damals entschied, Geschichten für Fremde zu schreiben, wusste ich, das alles würde mich stimulieren: das Schreiben auf Schreibmaschine, die Interaktion mit Passanten und der Druck, in kurzer Zeit eine Geschichte zu erzählen. Und wenn mir doch mal die Worte fehlen, dann drehe ich mich einfach zu der Person, für die ich mir gerade eine Geschichte ausdenke, und schon habe ich meine Inspiration.

 

KANN JEDER LERNEN, GESCHICHTEN ZU SCHREIBEN?

Auf jeden Fall. Wenn man erst einmal die Regeln des Erzählens beherrscht, kann jeder Geschichten schreiben.

 

HAST DU EINEN TIPP FÜR ANGEHENDE AUTOREN?

Lest! Lest so viel ihr könnt! Es ist der beste und einfachste Weg zu lernen, wie Geschichten aufgebaut sind.

 

BIST DU IN NEW YORK GEBOREN?

Ich komme ursprünglich aus Los Angeles. Ich bin damals nach New York gezogen, weil ich als Verleger arbeiten wollte.

 

HAST DU MAL DARÜBER NACHGEDACHT, DEINE KURZGESCHICHTEN IN EINEM BEST-OF-BUCH ZU VERÖFFENTLICHEN?

Das habe ich tatsächlich. Allerdings müsste ich dafür um die halbe Welt reisen und Fotos von den Seiten machen. Ich produziere stets nur eine Kopie der Geschichten, und die verschicke ich. /// www.rovingtypist.com

 

Interview: Felix Just

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