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REISE ANS ENDE
DER WELT
„Sanft schiebt sich das Schiff an ihnen vorbei, doch die Crew munkelt, dass die See hier sehr viel ruhiger sein müsste, als sie es tatsächlich ist. Ein Sturm kündigt sich an.“
7. Januar 2017

REISE ANS ENDE DER WELT

Ferdinand Magellan und seine Seemänner staunten nicht schlecht, als sie 1520 bei ihrer Erkundungsreise am Südzipfel des lateinamerikanischen Kontinents plötzlich rechts und links am Ufer Feuer sahen. Heute weiß man, dass die Feuer von den Ureinwohnern Patagoniens stammten, die sich daran wärmten. Die Seestraße, in der Magellan segelte, ist mittlerweile nach ihm benannt und trennt das Patagonien des Festlands von der Inselwelt Feuerlands, das seinen Namen der unheimlichen Erscheinung verdankt, die den Seefahrern begegnete. Es ist eine der südlichsten Regionen der Erde, eine der einsamsten, und die Natur atemberaubend.

Magellan brauchte Monate, um vom Río de la Plata nach Feuerland zu gelangen. Rund 500 Jahre später sind es immerhin noch dreieinhalb Flugstunden von Buenos Aires, der quirligen Hauptstadt Argentiniens, bis nach Ushuaia, der Hauptstadt der argentinischen Provinz Tierra del Fuego. Ushuaia liegt am Beagle-Kanal auf der Großen Feuerland-Insel Isla Grande de Tierra del Fuego. 14.000 Kilometer trennen die deutsche Hauptstadt Berlin und Ushuaia. Bis zur Antarktis sind es von hier aus lediglich 950 Kilometer. Entsprechend rau ist das Wetter: Sonne, Regen, Wolken und Schnee wechseln sich in kürzester Zeit ab. Die durchschnittliche Höchsttemperatur im patagonischen Sommer beträgt gerade einmal 13 Grad Celsius.

Von Ushuaia aus starten diverse Touren in die unberührte Natur der Provinz. Das chilenische Unternehmen Cruceros Australis bietet mit seinen beiden Schiffen Stella Australis und Via Australis gleich eine ganze Reihe verschiedener Expeditionskreuzfahrten durch die Insel-, Berg- und Gletscherwelt Feuerlands an. Dabei geht es dann auch schon mal an den südlichsten Ort der Erde – an das sagenumwobene und gefürchtete Kap Hoorn. Südlicher ist nur die Polarregion mit ihrem ewigen Eispanzer. Zunächst geht es allerdings mit dem Schiff durch den Beagle-Kanal in Richtung Westen. Schon bald erreicht die Expedition chilenische Gewässer.

Die Via Australis bietet soliden Komfort, Preise für das Interior Design wird sie aber nicht gewinnen. Das braucht sie auch gar nicht: Der Blick durch die großen Panoramafenster entschädigt für fehlende Motivation der Innenausstatter. Die Berge in Feuerland, die letzten Ausläufer der Anden sind bis zu 2.500 Meter hoch. Gemessen an alpinem Maßstab mag das zunächst nicht jeden beeindrucken, allerdings liegen die Massive direkt am Wasser und sind, dem kühlen Klima geschuldet, mit Schnee bedeckt. Ein einzigartiger Anblick, an dem man sich nicht sattsehen kann. Mit einer maximalen Passagierzahl von 136 Mann ist die Via Australis in ihrer Größe überschaubar, aber deshalb werden Landgänge von der strengen Umweltschutzbehörde in Chile überhaupt genehmigt. Das Publikum ist ein bunt zusammengewürfelter Haufen aus Spaniern, Chilenen, Russen, Argentiniern, Franzosen und Deutschen. Die Crew ist mehrsprachig.

 

Über Nacht legt die Via Australis die Strecke zum Garibaldi-Gletscher zurück, wo der erste Landgang auf den Patagonienurlauber wartet. Nach einem Sicherheits-Briefing durch die Expeditionsleiter werden Gummistiefel ausgegeben und man setzt mit dem Zodiac über an Land. Ziel ist ein kleiner Wasserfall, der noch eine Dreiviertelstunde Fußweg von der Anlegestelle entfernt ist. Es ist kein Sonntagsspaziergang, sondern eine echte Bergbezwingung durch unwirtliches Waldgebiet. Nur an sehr schwierigen und steilen Stellen sind Taue angebracht, um den Aufstieg zu erleichtern. Die Route führt über umgestürzte Bäume und durch einen Gebirgsbach. Langsam tasten sich die Tourteilnehmer auf dem rutschigen Boden nach oben. Am Wasserfall angekommen, steht der Gruppe die Erleichterung ins Gesicht geschrieben. Einige wenige wagen sich ins eiskalte Wasser zur Feuerlandtaufe – bei einer Lufttemperatur von 9 Grad Celsius nichts für Zartbesaitete. Die meisten genießen einfach den traumhaften Ausblick und die Ruhe und Gelassenheit, die dieses Naturerlebnis bietet. Zurück an Bord geht es direkt zum nächsten Ziel, dem Pia-Gletscher. Auch hier ist eine Exkursion geplant.

 

Mit tiefem Dröhnen brechen von dem Riesen Eisbrocken ab. Kalben nennen Experten dieses Schauspiel. Und der Pia kalbt oft, sodass im Gewässer vor dem Gletscher viele große und kleine Eisbrocken schwimmen. Es ist eine surreale Szene und wunderbar anzusehen. Die Fahrt mit den kleinen Zodiacs durch das Eismeer ist eine Erfahrung, die nur schwer in Worte zu fassen ist. Wer bislang meinte, den Setdesignern des Katastrophenepos „Titanic“ sei die Fantasie durchgegangen, wird nun eines Besseren belehrt. Die Zodiacs landen auf einer kleinen Landzunge schräg unterhalb des Gletschers an. Wieder folgt ein Aufstieg, allerdings weniger beschwerlich. Es geht durch ein Sumpfgebiet – der Schlamm steht mitunter knöcheltief – danach über riesige Gesteinsbrocken, die der Gletscher vor sich hergeschoben hat. Wer die Wegstrecke erfolgreich hinter sich gebracht hat, wird mit einem grandiosen Panoramablick auf den Pia-Gletscher belohnt. Der Exkursionsleiter bittet um fünf Minuten Ruhe, um die Aussicht wirken zu lassen. Und plötzlich tönen Geräusche, die vorher nicht da waren: Ein Vogel zwitschert, der Gletscher knackt und knirscht, ein unsichtbares Tier gibt merkwürdige Laute von sich, der Wind malt eine Melodie in die Luft. Man fühlt sich eins mit der Natur und wird ganz, ganz ruhig. Noch am selben Nachmittag legt die Via Australis zu ihrer nächsten Destination ab, das Kap Hoorn. Im abendlichen Dämmerlicht geht es durch die „Allee der Gletscher“. Sie alle sind nach Ländern benannt: Deutschland, Frankreich, Italien und Dänemark. Einer majestätischer und beeindruckender als der andere. Sanft schiebt sich das Schiff an ihnen vorbei, doch die Crew munkelt, dass die See hier sehr viel ruhiger sein müsste, als sie es tatsächlich ist. Ein Sturm kündigt sich an.

Abends und noch lange vor dem Eintreffen des prophezeiten Unwetters wird gewarnt, alles in der Kabine auf den Boden zu legen, was nicht niet- und nagelfest ist. Ein Crewmitglied gibt den Rat, möglichst viel Alkohol zu trinken, um die Nacht trotz Sturm durchschlafen zu können. Dank der All-inclusive-Bar kein Problem. Richtig durchschlafen fällt trotzdem schwer. Der Sturm hat über Nacht weiter an Stärke zugenommen und erreicht Windgeschwindigkeiten bis zu 96 Knoten, also rund 200 km/h. Die Brecher, die das Schiff kräftig durchrütteln, sorgen für einen steten Wechsel aus Schlaf- und Wachphasen. In einigen Kabinen rutscht das Mobiliar von einer Seite auf die andere. Wir erreichen das Kap Hoorn unbeschadet. Die Gischt der aufgepeitschten Wellen hüllt die Insel in eine Wolke aus Dunst. Der Kapitän bestätigt die Vermutung: Hier ist heute kein Landgang möglich. Mit 280 Tagen Regen im Jahr sind die Witterungsbedingungen am Kap Hoorn durchgängig schlecht. Einzig ein Leuchtturmwärter lebt hier mit seiner Familie und wird von Militärschiffen versorgt. Vor der Eröffnung des Panamakanals war das Kap Hoorn eine wichtige Ost-West-Passage. Viele der Segelschiffe aber havarierten an der felsigen Insel oder an herumtreibenden Eisbergen. Etwa 800 Schiffe sollen hier gesunken sein und über 10.000 Matrosen ihr Leben gelassen haben. Es ist der größte Schiffsfriedhof der Erde. Das Bordrestaurant ist wie leer gefegt. Der Appetit auf Frühstück ist den meisten Reisenden vergangen. Auf den Couchen der bordeigenen Salons sieht man hier und da einen Passagier mit eigentümlich grüner Gesichtsfarbe lümmeln. Die meisten ziehen es vor, in der Kabine zu bleiben.

Die letzte Station der Kreuzfahrt ist Bahía Wulaia, und als das Schiff ankert, ist die See so ruhig, als hätte es nie einen Sturm gegeben. Zunächst erscheint die Überfahrt an Land nicht anders als die beiden Male zuvor, doch plötzlich sind sie da: Petrolfarbene, zigarrenförmige Körper, die rechts und links des Zodiacs kurz auftauchen und dann wieder unter der Wasseroberfläche verschwinden. Es sind Delfine, die Spaß daran haben, die kleinen Schlauchboote zu begleiten. Der Name Bahía Wulaia stammt aus der Sprache der Ureinwohner Feuerlands, der Yámana, und bedeutet „schöne Bucht“. Einst existierten hier eine kleine Siedlung zweier kroatischer Familien sowie eine Militärbasis. Siedlung und Basis sind schon längst verlassen – ein einziges Haus zeugt noch von der Vergangenheit. Das Team von Australis hat in der Bahía Wulaia ein kleines, aber sehenswertes Museum eingerichtet, das von der Geschichte der Yámana erzählt. Am Abend vor der Rückkehr nach Ushuaia findet nach dem Abendessen ein kleines Showprogramm statt. Die Via Australis navigiert mit Seekarte und Zirkel, denn die Gewässer in Feuerland sind so abgelegen, dass es keine modernen elektronischen Karten gibt. Das Navigationswerkzeug wird unter den Reisenden versteigert und geht für 410 Dollar über den Tisch. Die chilenische Flagge, unter der das Schiff die letzten drei Tage fuhr, wird verlost. Durch den Sturm ist von ihr nur noch ein kleiner Stofffetzen übrig, keine 10 Zentimeter breit.

 

Es waren drei Nächte und zwei volle Tage an Bord, die Eindrücke sind aber so gewaltig, vielfältig und neu, dass es eher den Anschein macht, eine Woche unterwegs gewesen zu sein. Die Exkursionen sind einmalig. Die Landschaft ist mal atemberaubend, mal bezaubernd. Letztendlich ist es aber das Gefühl, ganz weit weg zu sein, das den Charme dieser Reise ausmacht: Die Reise ans Ende der Welt. ///

 

Text: Carsten Heider / Fotos: Hendrik Techel