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I’M NOT DRUNK ENOUGH
“Es kann passieren, dass man noch um 5 Uhr morgens in den Genuss einer privaten Sauna-Session kommt.“
2. November 2008

I’M NOT DRUNK ENOUGH

Helsinki an einem Freitagabend gegen 18:30 Uhr auf dem großen Senatsplatz direkt vor der berühmten Domkirche. Ein Mann im Anzug fällt plötzlich mit dem Gesicht zuerst zu Boden und bleibt regungslos liegen. Die einheimischen Passanten scheint es wenig zu interessieren, nur beim geschockten Touristen wird blitzartig der Helferinstinkt ausgelöst. Kaum nähert man sich dem vermeintlichen Opfer, schon zuckt es erschrocken zusammen und winkt peinlich berührt ab, um zu signalisieren, alles sei in bester Ordnung. – Nein, dies ist keine Ausnahmeerscheinung in Helsinki, denn die Finnen haben ein Alkoholproblem.

LITTLE PARIS ON THE ROCKS

Man kann sich kaum ein ambivalenteres Land vorstellen als das beschauliche Finnland mit seiner bürgerlichen Hauptstadt Helsinki. Dank der High-Tech-Industrie, allen voran natürlich Nokia, und den dazugehörigen Industriezweigen sind im Großraum Helsinki von den 1,2 Millionen Einwohnern gerade mal sechs Prozent arbeitslos. Die Gehälter sind gut, die Lebenshaltungskosten bewegen sich auf einem hohen, aber nicht übertriebenen Niveau, und die kleine Metropole versprüht einen subtilen Charme, den man als Little Paris on the rocks bezeichnen könnte. Was in Paris die Champs-Élysées sind, das ist hier die Esplanade: ein hübscher Boulevard mit klassizistischen Fassaden, aber eben nur einen Bruchteil so groß und pompös wie in der französischen Hauptstadt. Auch die angrenzenden kleinen Straßen mit Kopfsteinpflaster, einem abwechslungsreichen gastronomischen Angebot sowie finnischen Designläden vermitteln eine wohlige Atmosphäre. Alles wirkt unaufgesetzt, unprätentiös und unspektakulär, international und provinziell zugleich. Die typische Hektik und Betriebsamkeit einer Großstadt scheinen fern. Umso mehr irritiert das Freizeitverhalten der tendenziell eher unterkühlt und distanziert anmutenden Finnen. Besonders in einem so geordneten Umfeld wie Helsinki wirkt ein Mann mit Aktentasche, der nach Feierabend betrunken zu Boden fällt oder schon am frühen Abend mit Anzug und Krawatte taumelnd eine Bar verlässt, als Fremdkörper. Doch das sind erst die Vorboten eines kollektiven Besäufnisses, wie es jedes Wochenende in Helsinki stattfindet. Das Tanzen in Clubs wird dann zum Hindernisparcours zwischen vollkommen Betrunkenen, die sich kaum noch auf den Beinen halten können, ihre Getränke auf andere Gäste verschütten und Gläser reihenweise fallen lassen, bis die Tanzfläche einem Trümmerfeld aus Glasscherben gleicht. Noch erstaunlicher ist aber die Toleranzgrenze, denn anstatt die Tanzfläche von den Besoffenen zu räumen, wird ihnen noch weiter Alkohol ausgeschenkt – bis sie schließlich kotzend durch die Straßen Helsinkis nach Hause ziehen oder in irgendeiner Ecke herumliegen. Dementsprechend sieht die Innenstadt nach 4 Uhr morgens auch aus: wie ein Mienenfeld aus Erbrochenem.

LET’S GO TO AN AFTER PARTY

Um 4 Uhr ist Sperrstunde, und die Partys enden schon eine halbe Stunde vorher, damit die Clubs pünktlich leer sind. Da viele immer noch Partylaune haben, hat sich eine beliebte After-Party-Kultur gebildet. Wer gut aussieht und die richtigen Leute kennenlernt, der wird zu einer privaten Party eingeladen. Diejenigen, die es bis 4 Uhr nicht geschafft haben eingeladen zu werden, versammeln sich dann vor den Clubs und halten Ausschau nach potenziellen Hausparty-Veranstaltern. Oft ergibt sich noch was und man zieht in einer Gruppe von taumelnden Unbekannten in irgendeine Wohnung. Den Finnen liegt Dekadenz fern, und so sind die meisten Wohnungen klein und funktionell eingerichtet, was aber einen netten minimalistischen Charme hat. Doch oft laden gerade die Gutsituierten zu sich nach Hause ein, und so kann es passieren, dass man noch um 5 Uhr morgens in den Genuss einer privaten Sauna-Session kommt.

 

Spätestens hier, in der Sauna, offenbart sich dann die körperliche Verfassung der Finnen, denn der starke Alkohol- und Süßigkeiten-Konsum hinterlässt seine Spuren. Kein Wunder, denn bei der Kälte und Dunkelheit in den Wintermonaten müssen die Finnen ihre Glückshormonproduktion mit Alkohol und Süßigkeiten auf Trab halten. Apropos Alkohol: Er ist nicht so teuer, wie oft angenommen. Es kommt nur darauf an, was man trinkt: 0,4 l abgestandenes Bier vom Fass wird für etwa 4,50 Euro angeboten, und in den Alko-Läden, die exklusiv Alkohol verkaufen dürfen, ist Bier mit 2 bis 3 Euro pro Flasche auch recht teuer. Eine Flasche Absolut Vodka gibt es hingegen für 16 Euro, und die Clubs bieten immer Aktions-Getränke an, wie beispielsweise Vodka-Red-Bull für läppische 3,50 Euro.

MEHR ALS NUR SAUFEN & FEIERN

Natürlich hat Helsinki mehr zu bieten als nur saufen und feiern. Dreh- und Angelpunkt ist der Hauptbahnhof mit der zentralen Busstation: Von hier gelangt man in wenigen Minuten zu Fuß in die Einkaufsstraße Aleksanterinkatu, wo sich das edle Warenhaus Stockmann befindet. Besonders witzig ist es, dort in der Feinbäckerei eine Wartenummer ziehen zu müssen und zu warten, bis man aufgerufen wird, um sich eine süße Schnecke kaufen zu können. Ein Ausgang von Stockmann führt direkt zum Prachtboulevard Esplanade. Hier am Artek-Laden beginnt auch der berühmte Design District, der sich südwestlich der Esplanade vor allem rund um die Straße Uudenmaankatu ausbreitet. 170 Design- und Antiquitätengeschäfte, Kunstgalerien, Modeläden und Design-Hotels zeigen das breite Spektrum an funktionalem finnischen Interior und Industrial Design.

 

Wem es draußen zu kalt und ungemütlich wird, der kann im modernen Einkaufscenter Kamppi shoppen gehen, das unterirdisch mit dem Forum und dem Hauptbahnhof verbunden ist. Außerdem empfiehlt sich ein Besuch des Museums für Gegenwartskunst KIasma als Zufluchtsort vor winterlicher Kälte. Dafür bietet sich auch direkt neben dem Kamppi das Yrjönkatu-Hallenbad aus den 1920er Jahren an – das älteste in ganz Skandinavien. Traditionell wird hier meist nackt und nach Geschlechtern getrennt gebadet, sauniert und Tee getrunken. Am Samstag nur unter Männern, die allerdings etwas reserviert wirken. Aber so sind sie halt, die Finnen. /// www.visithelsinki.fi

 

Text: Martin Lewicki / Fotos: Klaus Nunes

2. November 2008 Travel m #23 zum mate.style.lab