CIUDAD DE MÉXICO
Auf der mexikanischen Flagge – grün, weiß, rot – hockt im Mittelfeld ein Adler mit unzufriedenem Gesichtsausdruck auf einem Kaktus. Eine Schlange in seinem Schnabel schreit ihren Weltschmerz gen Himmel. Der Legende nach sollten die Azteken in göttlichem Auftrag nach dieser Tier-Kaktus-Kombination Ausschau halten und bei Sichtung an genau jener Stelle eine Stadt gründen. Der Adler wurde gefunden; auf einer Insel in einem See. Und die Siedlung wurde gebaut. Heute heißt sie Mexiko-Stadt.
Große Städte brauchen große Gründungsmythen. In Wirklichkeit dürften die marodieren Azteken den Ort einfach geil gefunden haben. Nach eigenen Aufzeichnungen gerieten sie Mitte des 14. Jahrhunderts in das Tal mit der Weltschmerz-Schlange. Und sie beschlossen angesichts seiner landschaftlichen Schönheit und der guten strategischen Lage, dass nun Schluss sei mit dem unsteten Leben eines nomadischen Alltags.
COCKTAIL MIT WEITSICHT
Adler, Schlangen und Kakteen dominieren das Hochtal von Mexiko-Stadt schon lange nicht mehr. Auch der See ist inzwischen fast vollkommen ausgetrocknet und überbaut. Aber die großartige Lage mit den Bergen am Horizont ist geblieben. Einen Überblick über den Ballungsraum mit seinen mehr als 25 Millionen Einwohnern verschafft man sich am besten aus großer Höhe. Von der Terrasse des CITYZEN öffnet sich beinahe ein Rundum-Panorama. Die stylische Bar mit Restaurant liegt in der 38. Etage auf dem Sofitel Hotel. Von hier aus blickt man auf die Stadt und die Mehrzahl ihrer Hochhäuser herab und zu den Zwillingsvulkanen Popocatépetl und Iztaccíhuatl herauf – vorausgesetzt die Luft ist klar. Der extreme Autoverkehr in der Megalópolis del Centro de México, die nach drei Seiten geschlossene Lage des Tals und die damit verbundenen häufigen Inversionswetterlagen sorgen nicht selten für Smog und mäßige Fernsicht. Aber auch dann sind die Cocktails hoch über den Abgasen der Stadt ausgezeichnet.
VISIONÄRE KUNST
Ein Muss für Kunst- und Architekturfans dürfte ein Besuch der Häuser eines der bedeutendsten Malerehepaare der Moderne sein. Der Hausherr hieß mit vollem Namen Diego María de la Concepción Juan Nepomuceno Estanislao de la Rivera y Barrientos Acosta y Rodríguez, seine Frau Frida Kahlo de Rivera – kurz: Diego Rivera und Frida Kahlo. Ihr mit einer Brücke verbundenes Doppelhaus gilt als Startschuss des Funktionalismus in Mexiko. Außen Bauhaus in seiner schönsten Form, Innen Kunst; darunter ein Teil aus Riveras Judas-Kollektion, den berühmten Papiermaché-Figuren.
Das Museo Casa Estudio Diego Rivera y Frida Kahlo liegt in einer Gegend, die Mexikos Unterschicht nur dann regelmäßig betritt, wenn sie einen Job als Dienstmädchen oder Gärtner ergattern konnte. Riesige Anwesen hinter festungsartigen Mauern, kleine gewundene Gässchen und gebürstete Alleen bestimmen hier das Bild der Stadt. In der Gegend befinden sich einige Klöster, Herrenhäuser und malerische Plätze die einen Besuch Wert sind, wie zum Beispiel der Plaza San Jacinto oder der historische Ortskern um den Jardín Plaza Hidalgo.
KAISERLICHE HELLSICHT
Der eine Bruder schwul und ständig im Fummel, der andere charismatisch und liberal. Für einen Habsburger Kaiser gab es im 19. Jahrhundert kaum ein mieseres Familienschicksal. Franz Joseph I., Kaiser von Österreich und Gatte von Sisi, fand für Problem Nummer eins eine typische Lösung: Irrenanstalt. Und für Problem zwei eine kreative: Den potenziellen Konkurrenten beim Kampf um die Gunst des Volkes, seinen Bruder Maximilian, entließ er als Kaiser in die Neue Welt. Eine Legitimierung für die Herrschaft über Mexiko ließ sich über Maximilians Verwandtschaft mit den ehemaligen Eroberern basteln; schließlich waren das spanische Habsburger. Außerdem waren die Franzosen mit im Boot, weil sie sich über einen Mitstreiter im Kampf gegen die Ausbreitung der Vereinigten Staaten freuten. Sie logen das Blaue vom Himmel, um Maximilian zur Annahme des Postens zu bewegen. Kaiser Maximilian I. bescherte seinem Volk in drei Jahren Amtszeit eine renovierte Hauptstadt mit Parkanlagen, Gasbeleuchtung, eine 15 Kilometer lange und sechzig Meter breite Prachtstraße sowie eine spektakuläre Exekution: seine eigene. Dem Volk war er zu königlich, dem Geldadel zu liberal. Die unter Maximilian angelegte Calzada del Emperador, die Fahrbahn des Kaisers, ist inzwischen die Hauptachse der Stadt und trägt den weniger imperialen Namen Paseo de la Reforma. Sie ehrt damit die 1861 von Präsident Benito Juárez erlassenen Reformgesetze. Von ihrer Pracht, Größe und Faszination hat sie nichts eingebüßt.
Zu dieser Mischung aus mexikanisch-französisch-österreichischer Geschichte legt das Diana Restaurant noch eine weitere imperiale Tradition: ein britisches Afternoon Tea Ritual. Serviert wird es in der vierten Etage auf einer verglasten Terrasse – in Mexiko-Stadt kann es empfindlich kühl werden – mit Blick auf den Diana-Brunnen und den goldenen Engel auf der Unabhängigkeitssäule. Zum Tee gibt es süßes Gebäck, Pralinen, Scones mit clotted Cream sowie eine Auswahl hervorragender Sandwiches.
ERLÖSUNGSFABRIK MIT ERLEUCHTUNG
Auf Straßenniveau präsentiert sich der Paseo de la Reforma sonntags zwischen acht und 14 Uhr am schönsten. Zwischen dem Chapultepec-Park und der Basilica de Guadalupe wird der Prachtboulevard in dieser Zeit für den Autoverkehr gesperrt. Die 24 Kilometer lange Strecke erkundet man am besten mit einem der knapp zehntausend Leihräder, die an etwa siebenhundert Stationen in Mexiko-Stadt für wenig Geld ausgeliehen und wieder abgegeben werden können.
Am Ende der Strecke liegt die Basilika der Jungfrau von Guadalupe. Mit etwa zwanzig Millionen Pilgern jährlich ist sie das meistbesuchte Wallfahrtsziel und eine der größten Kirchen der Welt. Bis zu vierzigtausend Menschen finden unter dem geschwungenen Dach von 1975 Platz.
An der Reliquie des Mantels mit dem Gnadenbild Unserer Lieben Frau von Guadalupe sowie am Einwurf einer mehrere Meter langen Spendenbox werden die Erlösungswilligen auf vier parallel laufenden Rollbändern vorbei gefahren. Katholische Gleichheit; hier bekommt jeder exakt die selbe Zeit für ein Express-Gespräch oder ein Selfie mit der Jungfrau. ///
Text und Fotos: Carsten Heider