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RAUS AUS KUBA
„Mit 13 war ich der größte Dissident der Stadt, während alle anderen Kinder brav salutierten.“
1. Oktober 2016

RAUS AUS KUBA

Noch heute wird Raydel Armas emotional, wenn er über sein Heimatland spricht. Er ergeht sich allerdings nicht in Kindheitserinnerungen und Nostalgie: Der 33-Jährige ist voller Ablehnung und Wut. Sein Leben lang fühlte er sich verfolgt. Die ersten Versuche, dem kommunistischen Regime zu entkommen, scheiterte. Armas wollte die unmögliche Strecke von Kuba bis in die USA allein auf einem Surfboard bezwingen. Raydel Armas wurde 1980 in Matanzas im Norden Kubas geboren. Seine Eltern trennten sich, als er noch ein Kind war. Der Vater zog in eine andere Stadt, die Mutter arbeitete für den Staat und nutzte ihre Position, um denen zu helfen, die vom Staat zu Unrecht festgehalten wurden.

„Wie ein Lamm bin ich lange Zeit den Meinungsführern – in der Schule waren das die Lehrer – blind gefolgt. Als Kind glaubt man eben alles, was einem gesagt wird. Als ich zehn Jahre alt war, öffnete meine Mutter mir die Augen. Castro ließ gerade mal wieder verkünden, dass uns die Amerikaner überfallen würden. Die Sowjetunion gebe es nicht mehr und wir müssten uns auf den Gegenschlag vorbereiten. Als ich an dem Tag von der Schule nach Hause kam, erzählte ich meiner Mutter von der Quasi-Kriegserklärung. Bei einer Invasion würde ich aus dem Haus stürmen, sagte ich, und die Amerikaner töten. Meine Mutter nahm mich beiseite und stellte meine Vorstellung von der Welt völlig auf den Kopf, als sie sagte: ‚Es gibt auf der Welt noch mehr Länder als die USA und die Sowjetunion.‘ Wie bitte?

 

Das war Ende der 1980er, Anfang der 1990er. Kuba hatte eine regelrechte Panik vor den USA entwickelt, und ich musste mich erst langsam an den Gedanken gewöhnen, dass die Welt nicht nur aus Amerika und der Sowjetunion besteht. Man hatte mir und natürlich auch allen anderen Kubanern eine Gehirnwäsche verpasst. Mit 13 war ich der größte Dissident der Stadt, während alle anderen Kinder brav salutierten. Bis zu Beginn meiner Pubertät war ich nichts weiter als ein sorgfältig programmierter Roboter. Mit 14 ließ ich mir mein erstes Tattoo stechen. Ich hörte Rockmusik. Meine Mutter hätte mich am liebsten verprügelt.“ Homosexualität wurde zu dieser Zeit genauso unter den Teppich gekehrt wie das Wissen um die Weltkarte. „Ich wusste zwar, dass es Homosexualität gab, hatte aber nie einen schwulen Mann kennengelernt. Es war unmöglich zu sagen, wer schwul war oder nicht. Die meisten lebten im Geheimen. Ich wusste es zwar nur vom Hörensagen, aber die homosexuelle Bevölkerung litt sehr unter der Unterdrückung. Mit 15 entsprach ich dem stereotypen Bild eines Homosexuellen. Ich hatte lange Haare, ein Piercing und Tattoos. Die Machokultur in Kuba erlaubte Andersartigkeit nicht. Ich war es zwar nicht, wurde aber diskriminiert wie ein schwuler Mann.“

 

Armas erzählt von einer Transe, die in einer Kleinstadt lebte. Als eine der wenigen brachte sie den Mut auf, offen mit ihrer Sexualität umzugehen. Und mit der Zeit konnte sich selbst Kuba dem Fortschritt nicht verweigern. „Die ersten Männer und Frauen, die sich outeten, mussten ihre Courage noch in Schmerz und Blut bezahlen. Heute ist Kuba schon einen Schritt weiter.“

Es war zu jener Zeit als Armas sein neues politisches Bewusstsein entwickelte, dass er seine Liebe zum Surfen entdeckte. „Dreimal im Jahr fuhr ich nach Varadero, um meinen Vater zu besuchen. Dort fing ich auch das Windsurfen an. Erst mit zwanzig verdiente ich genug Geld, um meinem Hobby regelmäßig nachzugehen. Es ist die einzige Wassersportart, die wirklich jeden Muskel im Körper beansprucht. Mit jeder Bewegung verändert sich auch die Fahrtrichtung. Man reitet auf den Wellen. Es ist wie Magie. Manchmal kam ich an Booten vorbei und schenkte der Besatzung ein dickes Grinsen, wenn ich vorbeirauschte.“ Aus dem Hobby sollte bald ein Fluchtplan werden. Tagsüber verdiente Armas sein Geld in einer Keksfabrik. Nach seiner Schicht ging er an den Strand. Von seiner Familie in Varadero hörte er das erste Mal die Geschichte eines Surfers, der es auf seinem Brett bis nach Amerika geschafft hatte. „Er soll gegenüber dem Haus meines Vaters gewohnt haben. Er ist so etwas wie ein Surfermythos und mein Idol. Die Idee schwirrte lange Zeit in meinem Kopf herum. Ich hatte schon mehrere Versuche unternommen, auf Segelbooten zu fliehen. Die kubanische Marine fing uns aber immer wieder ab und brummte uns Arrest auf. Und wer schon einmal einen Fluchtversuch unternommen hat, ist sowieso unter ständiger Beobachtung.“ Ich traf Armas das erste Mal im Jahr 2000. Er arbeitete in einem Beach Resort und war überrascht, einen Amerikaner kennenzulernen. Er erzählte von seinen Erfahrungen mit dem kubanischen Regime und warnte mich anschließend, niemandem zu sagen, worüber wir uns unterhalten hatten. Tatsächlich folgte uns ein Beamter auf dem Weg zum Hotel und wollte, nachdem er uns angehalten hatte, unsere Hotelkarte sehen. „Ich wollte den Leuten die Augen öffnen. Ich hatte damals das Gefühl, es wäre meine Pflicht, der Welt die Wahrheit über die kubanische Regierung zu sagen. Als ich deine Kamera sah, schöpfte ich Vertrauen. Leute mit Kamera wollen die Wirklichkeit festhalten. Dass dir der Beamte gefolgt ist, bestätigt nur meine Aussagen über die kubanische Regierung.“

Am 22. April 2004 wollte Armas seinen Plan in die Tat umsetzen und es nur mit einem Surfbrett bis nach Amerika schaffen. Nachts zuvor rief er mich an und trug mir auf, ich solle die Küstenwache rufen, sollte ich bis zum Sonnenuntergang des nächsten Tages nichts von ihm hören. Den Anruf konnte ich mir sparen. „Es sah schon zu Beginn meines Fluchtversuchs nicht gut aus. Bis die Windverhältnisse günstig genug waren, verging eine Ewigkeit. Kurz vor der Bucht von Matanzas begegneten mir zwei kubanische Fischerboote. Hätten sie mich erwischt, hätte man ihnen auf die Schulter geklopft und sie mit Gratisdiesel oder einer Sondergenehmigung für den Fischfang belohnt.“ Armas kennt das Meer und seine Gesetze. Er wusste, dass er noch 30 Meilen vor sich hatte, als die Berge Kubas am Horizont verschwanden. Er wusste, er würde noch rund neun Stunden bis Florida brauchen, wenn er seine Geschwindigkeit halten könnte. Er war nicht allein auf seiner Reise in die Freiheit. Ein Schwarm fliegender Fische begleitete ihn. „Sie blieben lange Zeit an meiner Seite, selbst wenn ich anhielt, um meine Glieder zu strecken. Sie verharrten dann unter Wasser, aber nach jeder Pause tauchten sie kurz darauf wieder auf. Sie können bis zu einer Minute in der Luft segeln! Wie langweilig muss das Leben dieser Fische sein, wenn sie nichts Besseres zu tun haben, als mir auf meiner Flucht Gesellschaft zu leisten?.“ Plötzlich sah Armas etwas, das er zunächst für einen Leuchtturm hielt. „Ich dachte nur: ‚Mist, jetzt hast du dich verfahren.‘ Es machte aber keinen Sinn. Es konnte kein Leuchtturm sein. Wie sich herausstellte, handelte es sich tatsächlich um ein Schiff der US-Küstenwache. Die hielten mich ganz offensichtlich für einen Amerikaner, denn sie fuhren geradewegs an mir vorbei.“ Anderthalb Stunden später sollte Armas’ Reise ein abruptes Ende finden. „Ich war in einem Dschungel aus Seetang gefangen. Kaum zwei Finger breit Wasser blieben mir noch. Ich musste eine Entscheidung treffen. Ich hätte es weiter versuchen können und wäre wahrscheinlich gestorben oder ich konnte umdrehen. Ich machte mich also auf den Heimweg und beschloss nach zwei Stunden wieder umzukehren und nach dem Schiff der Küstenwache Ausschau zu halten. Ich fand es, musste aber immer wieder winken, bis sie auf mich aufmerksam wurden. Sie ließen ein Rettungsboot ins Wasser, das mich bald erreichte. Sie fragten, ob alles in Ordnung sei und ob ich Hilfe bräuchte. Ich fragte nach Wasser und sagte ich wäre Kubaner. Sie konnten es kaum glauben. Als wir das Schiff erreichten, war bereits die gesamte Besatzung an Deck. Selbst der Kapitän kam, um mir die Hand zu schütteln: ‚Ich bin eigentlich nicht befugt, dir das zu sagen, aber es sind lediglich noch 18 Meilen bis Marathon Key.‘ 18 Meilen, das ist nichts!“

Obwohl sie den Mann bewunderten, der es nur auf einem Surfbrett bis kurz vor die amerikanische Küste geschafft hatte, lieferten sie Armas an die kubanische Regierung aus. Er bewarb sich daraufhin um ein Visum. Sein Fluchtversuch untermauerte seinen Status als Regimekritiker und Armas lebte die nächsten drei Jahre in Isolation. Dann, in 2007, endlich die erlösende Nachricht: „Herzlichen Glückwunsch. Holen Sie sich ihr Flugticket ab.“ Armas zog nach New York und begann ein neues Leben. Jahre später schrieb er sich für den Dienst an der Waffe ein. Er wollte etwas tun für das Land, das so viel für ihn getan hat. Seine Mutter, die so leidenschaftlich für die Freiheit anderer kämpfte, starb, bevor Armas auswanderte. Sie wäre stolz auf ihren Sohn. Ein freier Mann, in einem freien Land. ///

 

Text & Fotos: David Waage for cooliostudio

1. Oktober 2016 Travel m #42 zum mate.style.lab