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KREUZFAHRT MIT KROKODIL
auf der World Voyager durch den Dschungel
1. August 2024

KREUZFAHRT MIT KROKODIL

Barcelona, Mallorca, Ibiza. Karibik, Kanaren, Ostsee. Viele Kreuzfahrtschiffe fahren über Wochen oder Monate auf exakt derselben Route. Sie liegen tagsüber im Hafen und fahren nachts. Und das Meer? Ist erstaunlich weit weg. Auf großen Schiffen nicht selten 16 Etagen. Muss nicht sein? Stimmt! Oft werden die Abenteuer größer, je kleiner das Schiff ist.

24 Türchen, 24-mal Schokolade. Im Laufe eines Lebens kann man mehr als zweitausend Pappdeckel von Adventskalendern aufklappen. Der Inhalt ist meist billig, die Vorfreude trotzdem groß. Deutlich teurer wird es, wenn man ein paar der größten Tore der Welt öffnen möchte. Sie wiegen je über sechshundert Tonnen, sind knapp 20 Meter breit und 25 Meter hoch. Hinter jedem der insgesamt acht „Türchen“ befindet sich Wasser. Nur Wasser. Und trotzdem ist jedes Öffnen und Schließen ein faszinierender Moment. Die Tore gehören zu den Schleusenkammern des Panamakanals. Er ist bei Weitem nicht die längste künstliche Wasserstraße der Erde. Mit 164 Kilometern ist der Suezkanal zwar fast doppelt so lang, aber er ist ein Meerwasserkanal, der keinen Höhenunterschied überwindet. Keine Schleusen, keine Tore, keine Überraschung.

Bei der Fahrt durch den Panamakanal zwischen Pazifik und Atlantik geht es zuerst durch drei Schleusen 26 Meter bergauf und am Ende wieder hinunter. 26 Höhenmeter, die ein Vermögen kosten. Für ein Kreuzfahrtschiff mit zweitausend Passagieren können je nach Auslastung Gebühren von über vierhunderttausend US-Dollar anfallen. Wirklich günstig – für 36 Cent – wurde der Kanal 1928 durchquert: mit Muskelkraft. Der US-Amerikaner Richard Halliburton schwamm von einem Ozean in den anderen. Er wurde dafür in der Bademode der Zwanzigerjahre vermessen, als Wasserfahrzeug klassifiziert und nach dem Schiffsmaß Tonnage eingestuft. Nach nur acht Tagen hatte er die Strecke zurückgelegt, für die moderne Kreuzfahrtschiffe einen kompletten Tag einplanen. Sein Abenteuer war nicht ganz ungefährlich, denn im Uferbereich der Wasserstraße kann man auch heute noch Krokodile beobachten.

SPANIEN 2.0

Bei der Einfahrt in den Panamakanal denkt mittlerweile kaum jemand an den Schwimmer zurück. Wenn man vom Pazifik in den Atlantik wechselt, beginnt die Fahrt mit Ausblicken auf die Skyline der Finanzmetropole Panama-Stadt. Hunderttausende von Briefkästen in einer Siedlung aus verträumten Gartenlauben? Von wegen! Hier stehen echte Wolkenkratzer, darunter acht der zehn größten Hochhäuser in Lateinamerika, sowie knapp zwei Dutzend Bauten, die die Zweihundert-Meter-Marke reißen. Eine großzügige Steuerpolitik hat innerhalb eines halben Jahrhunderts aus einer kleinen Stadt am Pazifik eine der wichtigsten Bankenmetropolen der Welt gemacht und ihr den Ruf einer ausgezeichneten Lage für Briefkastenfirmen verschafft.

Im Gegensatz zu vielen anderen Hafenstädten Mittelamerikas ist Panama-Stadt durchaus sehenswert. Es gibt noch die Ruinen der ersten spanischen Besiedlung und eine hübsch herausgeputzte Altstadt. Daneben ein Viertel, das an die Aufbruchstimmung der frühen Neunzigerjahre im Berliner Bezirk Prenzlauer Berg erinnert – mit schicken Kneipen, Kultur und Häusern, die aussehen, als könnten sie jeden Moment in sich zusammensacken. Und obwohl Panama großenteils konservativ katholisch ist, gibt es sogar eine kleine, recht lebendige Szene.

STEIN STATT PLASTIK

An Bord der World Voyager richtet sich die Aufmerksamkeit der Passagiere inzwischen nach vorn. Der Panamakanal verbindet nicht nur zwei Ozeane, er trennt auch zwei Kontinente. Insgesamt gibt es nur drei Brücken, die den Kanal überspannen. Die Puente de las Américas, die älteste und schönste der drei Brücken, schwingt sich noch in Sichtweite der Stadt über den Kanal. Auf großen Kreuzfahrtschiffen hat man das Gefühl, man könnte vom Oberdeck einen Muffin auf die Fahrbahn werfen. Auf der deutlich kleineren World Voyager gleitet man unter der filigranen Stahlkonstruktion hindurch wie auf einer großen Yacht. Weit über dreitausend Passagierkabinen gibt es auf den größten Kreuzfahrtschiffen, 99 sind es an Bord der World Voyager. Sie haben entweder einen Balkon oder eine bodentiefe Fensterfront, von der man die obere Hälfte absenken kann. Auf bis zu 28 Quadratmetern gibt es in den Kabinen geflieste Bäder mit Steinfußboden und nicht, wie auf vielen anderen Schiffen, Nasszellen aus Plastik.

SINTFLUT IM CANYON

Gedränge herrscht an Deck auch dann nicht, wenn alle Passagiere gleichzeitig an der Reling stehen, wie bei der Einfahrt in die erste Schleuse. Wenige Kilometer hinter der Puente de las Américas ist es bereits so weit: Wenn sich die Tore hinter der World Voyager geschlossen haben, fühlt man sich wie in einer engen Schlucht – für ungefähr acht Minuten. Länger dauert es nicht, um circa hunderttausend Kubikmeter Wasser in die Kammer zu leiten und das Schiff auf das nächsthöhere Niveau zu heben. Auf großen Schiffen merkt man davon nicht viel, zu weit ragen die ersten Decks über den Wasserspiegel hinaus. Vom offenen Restaurant auf Deck vier der World Voyager kann man die grauen Betonwände fast berühren.

Nach zwei weiteren Schleusen verläuft der Kanal auf dem 13 Kilometer langen Gaillard-Durchstich durch die knapp hundert Meter hohen Berge der kontinentalen Wasserscheide. An manchen Stellen sehen die Reste der terrassenförmig abgetragenen Berghänge aus wie gewaltige Maya-Pyramiden. Danach folgen 8 Kilometer auf dem Rio Chagres und 29 Kilometer auf einem Stausee. An seinem nordwestlichen Ende beginnt der Abstieg in Richtung Atlantik.

Bei Colón ist das Ziel der Tagesetappe erreicht: der Atlantik. Die Stadt trägt den spanischen Namen von Christoph Kolumbus – Colón – und wurde nicht etwa nach dem mittleren Abschnitt des Dickdarms – Colon – benannt. Die Stadt gilt als nicht sehr sehenswert. Seit der Umstellung der Frachtschifffahrt auf Container ist die Arbeitslosenquote auf rund vierzig Prozent gestiegen, die Armutsquote liegt noch höher. Kein gutes Pflaster für Kreuzfahrturlauber. Passagierschiffe lassen Colón deshalb links liegen (bei der Fahrt in den Atlantik genau genommen rechts) und fahren weiter in die Karibik.

SEEBLICK STATT INDUSTRIEHAFEN

Als Seetage beschreiben Reedereien Tage ohne Landgang. An diesen Tagen scheiden sich die Geister: Manche Urlauber wollen jeden Tag der Reise in einer anderen Stadt verbringen. Die anderen freuen sich auf Entspannung am Pool oder auf dem eigenen Balkon – am besten während das Meer langsam an ihnen vorbeizieht. „Die geringe Größe der World Voyager bringt einige Vorteile mit sich und ermöglicht es uns, unseren Gästen eine Art Kompromiss anzubieten“, beschreibt Sandra Huck von Nicko Cruises das Kreuzfahrt-Konzept. „Wann immer es möglich ist, spielen wir diese Vorteile aus. Wir legen zum Beispiel großen Wert darauf, dahin zu fahren, wo die großen Kreuzfahrtschiffe nicht hinkönnen oder -dürfen.“ Dann liegt das Schiff abseits der viel befahrenen Routen in kleinen Häfen oder ankert vor der Küste. Wer von Bord gehen möchte, wird mit Zodiacs an Land gefahren. Wer entspannen will, genießt die Aussicht auf das Meer und freut sich über den großen Abstand zu anderen Schiffen und dem sonst üblichen Trubel der Kreuzfahrtindustrie. ///

 

Text: Carsten Heider / Fotos: Carsten Heider, Claus Breitling