-
-
-
 
KREUZFAHRT INS NICHTS
GRÖNLAND
21. März 2025

KREUZFAHRT INS NICHTS

Der längste Dauerstau der Erde ist knapp sechzig Kilometer lang und an seinem Startpunkt etwa zehn Kilometer breit. Er gilt als Verursacher der berühmtesten Schiffskatastrophe und als eine der Hauptattraktionen der größten Insel der Erde. Wer ihn besuchen will, muss fast bis ans Ende der Welt reisen: in den Westen Grönlands.

Augenzeugen berichteten von gewaltigen Eismassen. Bis zu dreißig Meter hoch und wahrscheinlich über 120 Meter lang. Das war der sichtbare Teil des Eisbergs, auf den der Kapitän der Titanic am 14. April 1912 in peinlicher Selbstüberschätzung zusteuerte. Nur ein Siebtel der Masse des Eisbergs lag über der Wasserlinie. Aus diesen Daten berechneten Forscher, dass der Eisberg wohl bis zu 185 Meter in die Tiefe ragte und etwa 20.000 Tonnen wog. Man weiß, wo Eisberge herkommen, die in jener Gegend treiben: von der Westküste Grönlands. Man kennt die Wassertemperatur und die Geschwindigkeit, mit der sie schmelzen und in Richtung Süden driften. Und man geht deshalb davon aus, dass das Eis, das die Titanic versenkte, bereits im Herbst 1911 vom Jakobshavn Isbræ kalbte, einem der am schnellsten fließenden Gletscher der Erde.

GLETSCHERREKORDE

Seine Ausmaße lassen selbst Schweizer ehrfürchtig die Kamera ziehen. Der Gletscher ist bis zu zweieinhalb Kilometer mächtig – fast so hoch wie die Zugspitze – und achtzig Kilometer lang. An seinem oberen Ende geht er nahtlos in den 2.500 Kilometer langen Grönländischen Eisschild über.

Den Gletscher selbst können Urlauber nur aus der Luft betrachten oder mit großem Aufwand besuchen. Es gibt keine Straßen, die auch nur halbwegs in seine Nähe führen. Aber der Stau, den er auslöst, ist ein Naturschauspiel, das man nach einer kurzen Wanderung ab der Gemeinde Ilulissat erreicht. Bis zu 46 Meter schiebt sich der Jakobshavn Isbræ jeden Tag voran. Dabei brechen gewaltige Eismassen in einen sechzig Kilometer langen Fjord, der mit einer Barriere tief unter der Wasseroberfläche endet. Größere Eisberge wie jener, an dem sich die Titanic versenkte, bleiben an dieser Barriere hängen, bis der Druck von hinten zu groß wird.

„Danger to life“ warnen Schilder hoch oben auf den Felsen nahe der Unterwasserbarriere. „Do not walk beyond this point“. Wer zu nah an die Wasserlinie geht, läuft Gefahr, von einem Tsunami mitgerissen zu werden. Große Wellen gibt es häufig, denn die riesigen Eisberge ächzen und krachen nicht nur unter dem beständigen Druck, sie brechen und rollen auch regelmäßig. Man braucht nicht viel Geduld, um das zu erleben.

Viel mehr Geduld braucht man, um größere Teile Grönlands zu bereisen, denn es gibt quasi keine Straßen – zumindest außerhalb der Ortschaften. Wer sein Hotel im nur knapp zwölf Kilometer vom Gletscherstau entfernten Oqaatsut gebucht hat, wartet am besten auf den Winter und nimmt einen Hundeschlitten. Google Maps ist für die meisten Grönländer so hilfreich wie ein Busfahrplan von Castrop-Rauxel.

ZWEI AMPELN AUF ZWEI MILLIONEN QUADRATKILOMETERN

Die gewaltigen Entfernungen auf der größten Insel der Erde und ihre bescheidene Infrastruktur dürften ein Grund für die geringen Urlauberzahlen sein. Pro Jahr fliegt etwa die gleiche Anzahl Touristen nach Grönland, die an zwei leicht überdurchschnittlichen Tagen auf den Eiffelturm fährt. Hinzu kommt noch einmal ungefähr dieselbe Menge Urlauber, die Grönland im Laufe einer Kreuzfahrt besucht: etwa 50.000. Zum Glück sind es so wenige, möchte man meinen, denn die Insel mit ihrem längst nicht mehr ewigen Eis ist ein besonders empfindliches Ökosystem.

Ein weiterer Grund für die touristische Vernachlässigung Grönlands sind die Kosten. Für beinahe jeden Ortswechsel muss man ein Schiff nehmen oder fliegen, oft in mehreren Abschnitten mit einer teuren Kombination aus Hubschrauber und Flugzeug. Wenn es eine Gegend gibt, die sich am besten mit einem Kreuzfahrtschiff bereisen lässt, dann ist es die grönländische Küste. So hat man bereits im Vorfeld alle Ausgaben im Blick.

Unser Tipp: Nicht mit den großen Reedereien fahren, die nur die üblichen Häfen an der Westküste ansteuern. Die Insel ist dort am schönsten, wo die Dänen im Laufe der Kolonialgeschichte ihre grönländischen Untertanen nicht mit sozialem Wohnungsbau beglückten. Größtenteils aus solchen Bausünden besteht die grönländische Hauptstadt Nuuk. Mit großem Stolz blicken ihre Bewohner nur auf ein Kunstmuseum und zwei Kreuzungen mit Ampel. Zwischen den Plattenbauten muss man ansonsten suchen, um die halbwegs malerischen Holzhäuschen am historischen Hafen zu entdecken.

SEAVENTURE – GROSSE ERLEBNISSE AUF KLEINEM SCHIFF

„Wir müssen die Stadt trotzdem während unserer Expeditionskreuzfahrten anlaufen“, sagt Ann-Cathrin Bröcker, Geschäftsführerin bei Iceland Pro Cruises. „Die Gäste erwarten das. Aber unser Fokus liegt auf dem Naturerlebnis, den Fjorden, Gletschern und kleinen Gemeinden.“ Dazu zählt die Ostküste der Insel, an der auf mehreren Tausend Kilometern Küstenlinie nur etwa dreitausend Menschen leben und an der es nur eine nennenswerte Siedlung gibt: das kleine Tasiilaq. Dazu zählt auch der Prins Christian Sund, eine schmale von steilen Bergen und Gletschern gesäumte Wasserstraße im Süden Grönlands – befahrbar ist sie nur bei gutem Wetter. Und dazu gehört vor allem der wilde Nordwesten, dem Iceland Pro Cruises eine eigene Reise widmet.

Die Kreuzfahrten finden im Hochsommer statt, einer Zeit, in der es im Norden der Insel auch nachts nicht dunkel wird. Das Schiff, die Seaventure, hat Platz für maximal 164 Passagiere und kommt wegen ihrer geringen Größe auch in besonders schmale Fjorde und Buchten. An Bord gibt es Zodiacs, stabile Schlauchboote mit leistungsstarken Motoren, mit denen die Urlauber vom Schiff in die kleinen Häfen gebracht werden. An Tagen ohne Landgang – und wenn das Wetter es zulässt – werden sie für abenteuerliche Ausflüge auf dem Wasser benutzt. Zum Beispiel, um einem ins Meer ragenden Gletscher besonders nahe zu kommen oder an der Küstenlinie entlang unberührter Natur zu fahren. Dann kann man sich fühlen wie einer der frühen europäischen Seefahrer, die die Insel für außergewöhnlich grün hielten – und ihr deshalb ihren heutigen Namen gaben. /// www.icelandprocruises.de

 

Text & Fotos: Carsten Heider