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FASZINATION MARRAKESCH
zwischen 1001 Nacht und Jetset
23. Dezember 2024

FASZINATION MARRAKESCH

Marrakesch ist einzigartig. Vor über 900 Jahren von Stadtplanern nach modernsten wirtschaftlichen, funktionalen und sozialen Kriterien am Reißbrett als „Wüstenhafen“ geplant und erbaut, ist die Metropole heute mehr denn je Sehnsuchtsziel für Jetsetter, Golfer, Künstler, Alternative und Rucksacktouristen aus aller Welt. Von Zuwachsraten im Tourismus von über 250 Prozent im Vergleich zum Vor-Corona-Zeitraum können andere Destinationen nur träumen. Aber was macht diese Stadt so attraktiv?

Wie vermutlich keine andere Stadt der Erde hat Marrakesch eine autofreie mittelalterliche Medina, in der noch heute fast 400.000 Menschen wohnen und in der vieles noch wie vor 900 Jahren funktioniert. Ein paar Tage in einem Riad in der Altstadt zu verbringen und in das Fluidum der bunten Souks, Schausteller und Restaurants sowie märchenhafter Paläste einzutauchen und auf Entdeckungsreise zu gehen, ist trotz des zunehmenden Tourismus immer noch eine Erfahrung, die so kein anderer Ort in der Welt zu bieten hat. Marokko und im Besonderen Marrakesch haben sich ihre eigenständige und authentische kulturelle und soziale Identität erhalten, Marrakesch ist zugleich als ehemalige Karawanenstadt immer schon offen für Begegnung und Austausch der Kulturen gewesen. Hier findet man alles vom Hostel bis hin zur orientalischen Luxusunterkunft. Rund um Marrakesch gibt es 13 Golfplätze, Luxushotels in der Palmeraie und im parkähnlichen Stadtteil Hivernage. In der postkolonialen Neustadt mit ihrem quirligen Leben, Restaurants und Nachtklubs präsentiert sich ein weltoffenes, modernes Marokko. Im Gegensatz zu anderen Städten des Landes leben hier neben Berbern und Arabern viele Ausländer aus der ganzen Welt: Lebenskünstler, Intellektuelle, Schriftsteller und Musiker wie André Heller oder vormals Yves Saint Laurent, Che Guevara, die Rolling Stones, Jimi Hendrix, Paul Getty und viele andere illustre Persönlichkeiten haben die Stadt nachhaltig geprägt und zu ihrem Mythos beigetragen.

Vor mehr als 900 Jahren haben die damaligen Stadtplaner Marrakesch quasi aus dem Wüstensand gestampft. Wasserleitungen wurden aus dem Hohen Atlas hinunter verlegt und befüllen noch immer riesige Bassins rund um die Stadt, die die Wasserversorgung der öffentlichen Brunnen sicherstellen. Eine 19 Kilometer lange Stadtmauer wurde gebaut und ist bis heute lückenlos erhalten. Im geografischen Zentrum der Altstadt, auf dem Platz Jemaa el Fna, pulsiert das Leben Tag und Nacht. Dort, wo Karawanen aus dem fernen Timbuktu und anderen Regionen Afrikas mit bis zu 3.000 Kamelen bis ins 20. Jahrhundert hinein ihre Waren täglich umschlugen, treffen sich nun die Marokkaner, um sich zu amüsieren, zu essen und miteinander zu tanzen und zu musizieren. Märchenerzähler, Akrobaten, Berber-, Araber- und afrikanische Gnawamusiker, Schlangenbeschwörer und Hennatätowiererinnen beherrschen den Platz, der bis lange nach Mitternacht vibriert. Sogar „Trümmertunten“ führen hier in Frauenkleidern Bauchtanz vor, denn eine Frau würde niemals in der Öffentlichkeit so tanzen, es sei denn, es handelt sich um eine Prostituierte. Touristen sind am Platz in der eindeutigen Minderzahl.

Wo viele Menschen sind, wird viel gegessen. So werden hier nicht nur Ess- und Saftstände täglich auf- und abgebaut, sondern man findet auch eine kleine „Fressgasse“, wo seit Anbeginn des Handels täglich große Lehmöfen in der Erde befeuert werden, in denen bis zu zwanzig Lämmer und Schafe garen. Es ist die Lieblingsspeise der Marokkaner: „Mechoui“, ein Festtagsessen. Vermutlich sind es die ältesten durchgehend existierenden „Restaurants“ der Welt. Rings um den Platz schließen sich die Souks an, die großen Basare, wo man das einkauft, was man nicht jeden Tag erwirbt wie beispielsweise Kleidung, Schuhe, Taschen, Schmuck, Geschirr etc. An den Ausgängen und zentralen Stellen sind kleine Plätze oder Straßenverbreiterungen angelegt, wo die Transporteure mit Hand- und Eselskarren und manchmal sogar mit Tuk Tuks darauf warten, die Waren, die die Marrakschis im Souk gekauft haben, in die Riads zu liefern. Am größten Platz im Souk der Rahba Kedima, in der Nähe des ehemaligen Sklavenmarktes, sitzen seit Gründung der Stadt die Hennafrauen, die ganz unbemerkt von den Touristen Berge von Hennapulver in ihren Mörsern stampfen. Marrakschis, die etwas auf sich halten, kaufen hier das Henna für ihre aufwendigen Hochzeitstattoos.

Je weiter man sich vom Platz entfernt, umso mehr gehen die Verkaufs-Souks in die Produktions-Souks über, wo heute wie vor Hunderten von Jahren die alten Handwerkstraditionen lebendig sind. Es gibt Gerber, die Leder verarbeitenden Betriebe, die Färber, Graveure und Ziseleure, Möbelmaler, Schnitzer, Schneider und Korbflechter, Teppichhändler etc. – sie alle haben ihre Quartiere und der interessierte Besucher wird gerne mal auf ein Glas Tee eingeladen, was nicht unbedingt in ein Verkaufsgespräch übergehen muss.

Rund um die Produktions-Souks zieht sich der Gürtel der Karawanenhotels, der Funduks. Entlang geraderer und breiterer Straßen, die auch für voll beladene Kamele passierbar waren, öffnen sich gewaltige Tore zu großen Innenhöfen, in denen stets eine überdimensionale Waage hängt. Um den offenen Hof herum gruppieren sich Läden, in denen die Ware umgeschlagen wurde, im Obergeschoss befinden sich die „Hotelzimmer“, einfachste Absteigen für die Händler.

 

Zwischen dem Ring der Karawansereien und der Stadtmauer befinden sich die „Quartiers“: über vierzig Wohnviertel mit völlig unterschiedlichem Flair, Geruch, Bevölkerungsstruktur und sozialen Niveaus. Das reicht vom Königsviertel (Kasbah) bis zum Gerberviertel. Die Quartiers haben oft dörflichen Charakter. Kein Haus besitzt mehr als zwei Stockwerke, die fast immer von einer Terrasse gekrönt sind, von der aus man meist einen Blick über die gesamte Stadt hat.

Zwischen den Vierteln gibt es nur wenige durchgehende Verbindungsstraßen. Für Autos wurden diese Straßen seinerzeit jedoch nicht gebaut. Allenfalls Mopeds knattern heute zum Leidwesen der Fußgänger durch diese Lebensadern. Die Viertel sind abgeschlossene Verwaltungseinheiten, lebendige Organismen mit Organen. So gibt es in jedem Viertel einen Markt, der sieben Tage die Woche von morgens bis abends geöffnet ist. Hier kauft man frisches Gemüse, Obst, Fleisch und Fisch. Jedes Viertel besitzt seine eigenen Moscheen, Koranschulen und öffentlichen Brunnen, denn es gibt noch immer Häuser ohne fließendes Wasser.

Da in Marokko Wasser seit jeher sehr kostbar ist, wäscht man sich meist nur im Hamam gründlich. Dennoch sind Marokkaner sehr sauber und waschen sich täglich fünfmal rituell im Vorraum der Moscheen. Ein Liter Wasser genügt für solch eine Waschung. Die Badehäuser sind streng getrennt nach Männern und Frauen. Der „Farnatchi“, die Feuerstelle des Hamam, dient zugleich als Kochplatz für die Tanjia, eine Spezialität Marrakeschs. Es handelt sich um das „Gulasch im Tonkrug“, das die Frauen hierher zum Garen bringen. Außerdem trifft man immer wieder auf öffentliche Backöfen, in die Frauen ihr Brot zum Backen tragen. Und schließlich darf das Büro des Moquadams, des Quartiervorstehers, nicht fehlen, der jeden kennt und als unangefochtene Autorität alle Nachbarschaftskonflikte, Verwaltungs- und Bauaktivitäten im Blick hat und unbürokratisch regelt.

Von der Hauptstraße des Quartiers zweigen unzählige Gassen ab, die in die Derbs (zusammenhängende Häuserzeilen) führen. Sie verästeln sich wie ein Baum und haben meist nur einen einzigen Zugang. Über jedes Derb wacht in der Nacht ein Nachtwächter, der von den Bewohnern solidarisch finanziert wird. So kann man sich selbst in der Nacht überall gefahrlos bewegen und sicher zu seinem Riad zurückkehren. Über neunzig Prozent der Gassen in der Medina sind Sackgassen. Das machte die Stadt in der Vergangenheit quasi uneinnehmbar und bereitet dem Ortsfremden auch heute noch große Probleme bei der Orientierung. Es existieren so gut wie keine direkten Wege.

Maximal 100 Meter im Umkreis der Wohnhäuser gibt es eine oder mehrere „Boutiquen“, sozusagen Tante-Emma-Läden. Das Sortiment reicht von Toilettenpapier über Kugelschreiber, Olivenöl, Nudeln, Salz, Zucker, Zahnpasta, Kaffee, Tee, Joghurt und Milch bis zu Softdrinks, frischem Fladenbrot und Damenbinden. Hier findet man – gut zu wissen für die Touristen in dieser Stadt – immer auch Wasser in Halb- und 1,5-Liter Flaschen, gekühlt und ungekühlt. Die Boutiquen haben geöffnet, solange Menschen auf der Straße sind.

Fast alle Häuser in den Derbs folgen dem Gestaltungsprinzip des Riad – das arabische Wort für Paradies –, des Atriumhauses. Sie besitzen kaum Fenster nach außen. Die Türen ähneln sich und verraten nichts über den Wohlstand oder sozialen Status der Bewohner. Selbst wenn man das Privileg hat, durch eine der Türen eingelassen zu werden, sieht man zunächst kaum etwas vom Haus. Man tritt in einen dunklen Gang ein, der in einen Innenhof führt, in dem es einen Brunnen und Pflanzen gibt und in dem Vögel singen. Alle Räume öffnen sich auf den nach oben offenen Patio. Hier ist es im Gegensatz zu den dicht bevölkerten und lauten Straßen und Plätzen angenehm still und kühl. Die Diskretion, Abgeschiedenheit, Privatheit und Stille in diesen Häusern übertrifft alles, was sich ein Europäer unter einem solchen Innenhof vorstellen kann. Dies ist die wahre Lebensqualität in Marrakesch. Die Riads sind Zufluchtsorte mitten im lauten und pulsierenden Leben der Großstadt. Sie besitzen zumeist eine Terrasse, die eher die Domäne der Frauen ist. Auch hier ist Diskretion das oberste Gebot. Man zeigt sich nicht auf den Dächern und hält auch kein Schwätzchen von Terrasse zu Terrasse. Wenn man einen Nachbarn oder Fremden auf der Terrasse sieht, wendet man sich diskret weg und tut so, als ob man sich nicht gesehen hat. Am treffendsten hat wohl der Nobelpreisträger Elias Canetti in seinem Buch „Die Stimmen von Marrakesch“ die Lebensqualität in den Riads beschrieben: „Man geht auf und ab und atmet die Stille ein. Wo ist das ungeheuerliche Treiben geblieben? Das grelle Licht und die grellen Laute? Die hundert und aberhundert Gesichter? In diesen Häusern gehen wenig Fenster auf die Gasse, manchmal keines; alles öffnet sich auf den Hof, und dieser öffnet sich auf den Himmel. Nur durch den Hof ist man in einer milden und gemäßigten Verbindung mit seiner Umwelt.“ Wer Marrakesch wirklich erleben möchte, sollte sich in einem Riad einquartieren. In diesen Oasen der Ruhe findet man einen Rückzugsort vom bunten, hektischen Treiben der Medina. ///

 

GAY LIFE

Marokko tickt anders. Diskretion ist das oberste Gebot. Homosexuelle Handlungen in der Öffentlichkeit stehen unter Strafe. Was jedoch in den eigenen vier Wänden geschieht, ist Privatsache. Marrakesch war als „Wüstenhafen“ immer schon eine Stadt der Prostitution. Heute ist es nicht anders. Es gibt in Marrakesch keine schwulen Bars oder Treffpunkte, vieles läuft über Grindr oder Planetromeo. Es ist höchste Vorsicht geboten, denn selbst reguläre Profilinhaber stellen sich sehr oft als Escorts heraus, die im Nachhinein Geld erpressen wollen oder ihre Liebhaber ausrauben. Ein Treffen mit jemandem ohne Whatsapp-Kontakt ist brandgefährlich. Auch in den Hamams geht es diskret zu, homosexuelle Handlungen sind dort ein No-Go! Falls es zu einem Treffen kommt, sollte man Handy, Geld und Wertsachen zu Hause lassen. In Marokko ist es verboten, unverheiratete Paare – und das gilt auch für zwei Männer – in einem Hotelzimmer zu beherbergen. Eine Person mit aufs Zimmer zu nehmen, ist absolut verboten und wird auch von der Rezeption unterbunden.

 

ZUM AUTOR

Michael Gentschy hat seinen Lebensschwerpunkt in Marokko und betreibt dort das „Riad Michel“ in der Medina von Marrakesch. Er ist profunder Kenner des Landes, seiner Geschichte und Traditionen und verfügt über ein gutes Netzwerk im ganzen Land. Er organisiert Individualreisen. Kontakt über info@mountainfloat.de.

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