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REINE KOPFSACHE:
HAARE UND WAS SIE UNS BEDEUTEN
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20. Oktober 2016

REINE KOPFSACHE: HAARE UND WAS SIE UNS BEDEUTEN

Es ist früher Abend und eigentlich bin ich längst auf dem Weg nach Hause, da erreicht mich der Anruf eines Freundes. Er klingt gestresst. Ich muss vorbeikommen und ihm die Haare schneiden: Er hat sie einmal zu oft blondiert, und wenn nicht schnell etwas passiert, bricht ihm seine lange Mähne kurz vor der Kopfhaut ab. Ich bin kein Frisör, aber nicht völlig untalentiert. Trotzdem muss er alle fünf Minuten aufstehen und im Spiegel prüfen, ob ich seinen Schnitt nicht völlig ruiniere. Er ist nervös. Warum? Sind doch bloß Haare!

 

Als einer von nur wenigen Säugern ist der Mensch so gut wie nackt. Im Gegensatz zu Nashorn und Elefant tragen wir allerdings auffällig viel Kopfhaar. Evolutionsbiologisch stellt sich also die Frage, weshalb unser Haupthaar geblieben ist, während der Rest unserer Körperbehaarung im Verlauf der Jahrtausende nahezu gänzlich verloren ging. Haare sind ein wirksamer Schutz gegen Parasiten, Verletzungen, Kälte und UV-Strahlung. Viele Säugetiere nutzen ihren Pelz außerdem zur Kommunikation, stellen ihre Rückenhaare auf oder ändern sogar die Farbe ihres Fells, um unter anderem Paarungsbereitschaft anzuzeigen. All diese Vorteile der Körperbehaarung hat der Mensch aufgegeben. Weshalb und wann genau, kann niemand mit Sicherheit sagen. Manche vermuten, die Fähigkeit zu schwitzen hat den Menschen gezwungen „Federn zu lassen“. Andere wieder glauben, die Mutation wäre rein zufällig erfolgreich gewesen und der Mensch hätte aufgrund seiner Intelligenz auf Tarnung und Schutz verzichten können. Wieder andere glauben an die sogenannte Wasseraffen-Theorie, nach der unsere Vorfahren zwischenzeitlich den Weg zurück ins Wasser versuchten und so alle Haare wieder verlieren wollten. Warum aber behielten wir im Laufe des Evolutionsprozesses unser Haupthaar? Diente es damals wie heute dem Selektionsprozess während der Paarungszeit? Möglich. Unser Haar ändert sich mit der Nahrung, die wir aufnehmen. Eine reiche Grundversorgung würde sich also auch in unserem Haar widerspiegeln und ist ein Indiz für a) nahrungsreiche Umgebung oder b) ein besonders begehrenswertes Exemplar der menschlichen Rasse, das selbst in der unwirtlichsten Umgebung zu überleben vermag. Wahrscheinlicher aber ist, dass wir unser Kopfhaar behielten, um uns vor der Sonne und der Kälte zu schützen. Nachdem der Mensch den aufrechten Gang erlernt hatte, war sein Kopf länger der einzige Körperteil, der die direkte UV-Strahlung von oben abbekommen sollte. In kälteren Gebieten musste der Mensch vor allem einen größeren Wärmeverlust verhindern. Über den Kopf geben wir einen Großteil der Körperwärme ab.

 

Viel interessanter aber sind die Fragen, weshalb uns Mutter Natur mit einer – wenn wir Glück haben – vollen Mähne ausgestattet hat, wie unser Haar unsere Kultur beeinflusst, was es über uns als Person sagt und wie die Welt wohl ohne aussehen würde.

 

HAARESZEITEN

Als Neugeborenes sind wir mitunter noch stark behaart, oder besser : flächendeckend. Der Flaum dient in der Gebärmutter als Schutzmantel und beugt der Austrocknung vor. Die meisten dieser sogenannten Lanugo-Haare fallen vor der Geburt einfach aus, spätestens aber einige Wochen danach. Im Krabbelalter und als Kleinkind sind uns unsere Haare so ziemlich egal – es sei denn, wir spielen Prinzessin. Zum Frisör wollen wir auch nicht. Warten ist langweilig und der Umhang kratzt immer. Die schönsten Haare hat sowieso Mama. Oder Barbie. Als Jugendlicher entwickeln wir eine merkwürdige Obsession um unsere Haare. Da interessiert es auch nicht, dass unsere Eltern uns verboten haben, uns die Haare blau zu färben. Drei Kilo Haargel sind gerade genug. Manch einer bleibt stecken in der gelen Phase. Wer Glück hat, wird erwachsen und findet einen seiner sozialen Umgebung und dem eigenen Geschmack angepassten Haarschnitt. Haare als Sozialanzeiger?

 

Haare geben Auskunft über unser Geschlecht, sind Erkennungszeichen verschiedener Gruppierungen – ob ethnischer oder kultureller Natur oder einfach nur Fans einer bestimmten Band –, sie sind Ausdruck des eigenen Geschmacks und auch Indikator sozialer Stellung. Während es in westlichen Kulturen weniger eindeutig ist, sind die Informationen, die wir über den Träger eines bestimmten Haarschnitts innerhalb von Naturstämmen, Anhängern unterschiedlichster Religion und vor allem in asiatischen Ländern erhalten, schon sehr viel konkreter. Kulturhistorisch standen und stehen kurze Haare für Unterdrückung und Macht. Galt es lange Zeit auch als schick, langes Haar zu tragen, setzte sich in Westeuropa schon früh der Kurzhaarschnitt auch für Männer mit gesellschaftlicher Stellung durch. In Zeiten der Kolonialisierung und des Imperialismus wurden dann nicht nur Religion und Moralvorstellungen den unterworfenen Ländern aufgezwungen, sondern auch Mode und eben der allgemein als schick geltende Haarschnitt. In vielen asiatischen Kulturen wurde ausgestoßenen Familienmitgliedern das Haar kurz geschnitten. Heute wird diese Praktik kaum noch ausgeübt und das (Kurz-)Schneiden langer Haare steht für einen Neuanfang. Ein voller Bart ist in einigen Kulturen unabdingbares Zeichen von Männlichkeit. Ein spärlicher Bartwuchs verurteilt Männer zu lebenslangem Spott und Hohn der Bärtigsten. Es überrascht also nicht, dass die Nachfrage nach Haartransplantationen im Gesicht in diesen Ländern steigt. Aber warum tun wir uns das an? Das Ziehen, Schneiden und Zupfen? Transplantieren? Veränderungen an unserem Körper können zweierlei Gründe haben: das bloße Diktat unserer Umwelt oder aber ein innerer Konflikt. Sind unsere Haare also sogar Spiegel unserer Seele?

 

Während ich darüber sinniere, was uns unsere Haare bedeuten und was sie unserem Gegenüber von uns erzählen, laufe ich am Berliner Universitätsklinikum Charité vorbei. Getrimmt, anderen Leuten auf den Kopf zu schauen, komme ich nicht umhin zu bemerken, dass hier Jungs wie Mädchen den gleichen Frisör zu besuchen scheinen. Haare als Zeichen der Zugehörigkeit? Auf jeden Fall. Punks mögen es bekanntlich bunt und asymmetrisch, Bären scheren sich weniger um ihr Haupthaar, solange es auf den Wangen und der Brust sprießt, Fitnessfanatiker stehen auf den klassischen Kurzhaarschnitt, und Hipster kämmen mal in die eine, mal in die andere Richtung. Und mein Freund kann nach einem Nothaarschnitt wieder munter drauflosfärben. ///

 

Text: Felix Just

20. Oktober 2016 Body m #38 zum mate.style.lab